Erinnerung

Als „Gorbi“ durch Bensheim spazierte

Im Jahr 1994 besuchte der ehemalige sowjetische Staatspräsident Bensheim und der BA berichtete

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gs
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Bergstraße. „Da war er deutlich zu spüren, der Hauch der Geschichte“, blickte Ehrenbürgermeister Georg Stolle († 2020) vor drei Jahren im Gespräch mit dem Bergsträßer Anzeiger zurück auf den Besuch des ehemaligen sowjetischen Staatspräsidenten Michael Gorbatschow und seiner Ehefrau Raissa.

Fast auf den Tag genau 28 Jahre ist es her, dass der einst mächtigste Mann der Sowjetunion, der mit seiner Politik von Perestroika (Umbau) und Glasnost (Offenheit) das Ende des Kalten Krieges einläutete und die deutsche Wiedervereinigung ermöglichte, auf seiner Deutschlandreise am 10. September 1994 einen Tag lang Station in Bensheim machte.

Grund für die private Stippvisite des prominenten und besonders bei den Deutschen beliebten Politikers, der die gesamte Stadt in Aufruhr versetzte und die Sicherheitskräfte vor große Herausforderungen stellte, war die in Bensheim ansässige Russland-Kinderhilfe Mischka. Maria Willmes-Pastor, Gründerin und Vorsitzende des Vereins, die damals innerhalb von zwei Jahren rund vier Millionen Mark für Kinderkliniken und -heime in Moskau, Sankt Petersburg und Stawropol gesammelt hatte, hatte den früheren Parteivorsitzenden der KPdSU (1985 bis 1991) und Friedensnobelpreisträger eingeladen.

Es war natürlich eine besondere Ehre, dass der Initiator der Entspannungspolitik die Einladung tatsächlich angenommen und die Familie Willmes-Pastor sogar in ihrem Haus aufgesucht hat, um ihr für die Unterstützung zu danken.

Plausch beim Winzerfest

Dass die Deutschlandreise das Ehepaar Gorbatschow ausgerechnet am Winzerfest nach Bensheim führte, war ein schöner Zufall. Gemeinsam mit dem damaligen Bürgermeister Stolle und Willmes-Pastor schlenderten Michael und Raissa Gorbatschow vom Hospital aus zu Fuß an den Weinständen vorbei.

Stolle erinnerte sich daran, dass das Paar einem kurzen Plausch mit dem einen oder anderen Winzer nicht abgeneigt war und an den Ständen des Weinbauverbandes Bergstraße und der Freunde aus der Partnerstadt Beaune kurze Stopps einlegte.

Zur Person

Michail Gorbatschow wurde am 2. März 1931 in Priwolnoje, in der Region Stawropol, geboren. Ab 1950 studierte er Rechtswissenschaften in Moskau und trat 1952 in die kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) ein.

Er heiratete die Soziologie-Studentin Raissa Titarenko, absolvierte eine Ausbildung als Agrarbetriebswirt und wurde 1970 Erster Sekretär für Landwirtschaft.

1985 Ernennung zum Generalsekretär der KPdSU. Mit Reformen wie Glasnost (Offenheit) und Perestroika (Umgestaltung) leitete er das Ende der Sowjetunion ein.

Gorbatschow hob die Breschnew-Doktrin auf, so erhielten Ostblockstaaten das Selbstbestimmungsrecht. 1989 öffneten zunächst Polen und Ungarn ihre Grenzen. Nach Ausreisewellen kam es im November 1989 zum Fall der Mauer in der DDR.

Gorbatschow stimmte dem Zwei-plus-vier-Vertrag zu und machte so den Weg frei für die Deutsche Einheit. 1990 erhielt er für diese Verdienste den Friedensnobelpreis.

1990 wurde er zum ersten Staatspräsidenten der Sowjetunion gewählt. Reformen in Politik und Wirtschaft führten zu einem Machtverlust der Sowjetunion – kurz nach deren Auflösung trat Gorbatschow 1991 als Staatspräsident zurück.

Nach seiner Amtszeit gründete er 1992 die Gorbatschow-Stiftung – eine Stiftung zur Unterstützung sozialwirtschaftlicher und politischer Forschung. Mit Sophia Loren und Bill Clinton veröffentlichte er eine Kinder-CD, wofür sie 2003 mit einem Grammy ausgezeichnet wurden.

Er ist Verfasser mehrerer Bücher, unter anderem: „Was jetzt auf dem Spiel steht: Mein Aufruf für Frieden und Freiheit“. 30 Jahre nach dem Mauerfall sieht Gorbatschow den Frieden in der Welt in Gefahr.

Michail Sergejewitsch Gorbatschow starb am Dienstag, 30. August 2022, in Moskau.

Zwei Dolmetscherinnen waren immer an deren Seite – und vier oder fünf bullige Typen von der eigenen Security. Stolle: „Man konnte sehen, beziehungsweise ahnen, dass die Männer unter ihren Jacken kugelsichere Westen trugen.“ Sie sorgten auch dafür, dass niemand den Gorbatschows zu nahe trat: „Sie schirmten die beiden komplett ab.“

Gedränge in der oberen Fußgängerzone und Jubel der Bevölkerung waren aber so groß – „es waren auch viele Exil-Russen nach Bensheim gekommen“ –, dass Raissa schließlich Platzangst bekommen habe und der ganze Tross über die Bahnhofstraße zum Bürgerhaus geleitet wurde.

Mobile Klinikstation

Dort wurden nicht nur Reden gehalten, die vor allem die gute Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Russland zum Thema hatten, auch Raissa Gorbatschow sprach zu den deutschen und russischen Delegationen und bedankte sich bei dem Hilfsverein Mischka für die großzügige Unterstützung notleidender und kranker Kinder. Und natürlich trug sich der Ex-Präsident in das Goldene Buch von Bensheim ein.

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Höhepunkt des Besuchs des Ehepaars Gorbatschow aber war die Übergabe einer mobilen Klinikstation. „Das Gerät war etwa so groß wie ein Wohnmobil“, beschrieb Stolle die Krankenstation auf Rädern. Spenden von Mischka und einem weiteren Verein aus Paderborn haben Anschaffung und Transport ermöglicht. Sie sollten die medizinische Versorgung der Menschen in Gorbatschows Heimatstadt im nördlichen Kaukasus (heute Stawropol) verbessern helfen.

Von einer ausgesprochen guten und lockeren Stimmung beim Abendessen und bei Bergsträßer Wein im Restaurant „Tenne“ berichtet Georg Stolle, den der BA zu der denkwürdigen Begegnung mit Michael Gorbatschow befragt hatte. Auch das Feuerwerk habe man sich gemeinsam angesehen. Er selbst, so Stolle, habe sich den Abend über angeregt mit Wadim Walentinowitsch Sagladin, dem persönlichen Berater der russischen Ex-Präsidenten Breschnew und Gorbatschow, unterhalten. Und zwar auf Deutsch: „Er beherrschte unsere Sprache perfekt.“ gs

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