Rom, 19. April 2005: Um 18.41 Uhr erlöst Kardinalprotodiakon Jorge Arturo Medina Estévez die gespannt wartenden Katholiken. „Wir haben einen Papst: Seine Eminenz, den hochwürdigsten Herrn Joseph, der Heiligen Römischen Kirche Kardinal Ratzinger, der sich den Namen Benedikt XVI. gegeben hat,“ ruft er vom Mittelbalkon des Petersdoms. Der ebenso mächtige wie konservative Kardinal hat im vierten Wahlgang gewonnen, dem Vernehmen nach gegen den Argentinier Jorge Mario Bergoglio – der ihn acht Jahre später als Franziskus ablösen wird. Kirchenpolitisch bedeutet das: Reformen bleiben weiter aus. Bis zur Sensation von 2013, als Benedikt überraschend geht und Franziskus eine fortschrittliche Linie einschlägt.
Benedikt erzählt vom „Fallbeil“, das im Konklave über ihm niedergegangen sei. „Ich habe mit tiefer Überzeugung zum Herrn gesagt: Tu mir dies nicht an!“ Schließlich hatte er Johannes Paul II. mehrfach gebeten, ihn in den Ruhestand zu entlassen. Aus gesundheitlichen Gründen, aber auch, um seinen mehr als 600 Schriften weitere hinzuzufügen. Doch alles Beten hilft nicht, der 78-Jährige wird Papst Nummer 265 – der achte aus Deutschland und der erste Deutsche seit 482 Jahren.
„Unangenehme Meldungen“
Konservative Katholiken sind von „Papa Ratzi“ begeistert. „Bild“ bringt das auf die prägnante Formel „Wir sind Papst!“. Der neue Stellvertreter Gottes auf Erden (nach katholischem Verständnis) wird in erster Linie von Kardinälen gewählt, die Johannes Pauls II. (1978-2005) reformfeindlichen Kurs fortsetzen wollen. Dessen entscheidender Unterstützer ist Ratzinger, seitdem der Pole ihn zum Präfekten der Glaubenskongregation erwählt hat (1981). Damals kündigt der neue Hüter der reinen Lehre an: „Nicht alle Meldungen, die aus Rom kommen, werden angenehm sein.“
Damit wird er in seiner Kardinalszeit wie in seinem Pontifikat Recht behalten: ob im Kampf gegen die marxistisch orientierte südamerikanische Befreiungstheologie oder gegen die Position der Deutschen Bischofskonferenz in der Schwangerenkonfliktberatung. Oder in seiner strikten Ablehnung des Vorstoßes der Bischöfe von Mainz, Freiburg und Stuttgart (Karl Lehmann, Oskar Saier, Walter Kasper), Geschiedenen, die wieder heiraten, die Kommunion zu ermöglichen. Heute sind Lockerungen für wiederverheiratet Geschiedene erneut ein Thema, zu dem der für liberale Positionen offene Papst Franziskus den Anstoß gibt.
Ratzinger bringt seine strenge Haltung Bezeichnungen wie „Panzerkardinal“ oder „Großinquisitor“ ein. Dabei vertritt der brillante Theologe während des II. Vatikanischen Konzils (1962-65) noch fortschrittliche Ideen. Den Schwenk zum traditionellen Katholizismus vollzieht Professor Ratzinger – zeit seines Lebens mehr Wissenschaftler als Seelsorger – nach den Studentenprotesten der 68er.
Und bleibt ihm treu. Auch als Papst. Von Reformen will er nichts wissen, wenn Veränderungen, dann rückwärtsgewandte. Etwa als er 2007 die traditionelle Tridentinische Messe zulässt, die Paul VI. 1969 abgeschafft hat: Gebetet wird auf Lateinisch, der Priester wendet den Gläubigen den Rücken zu. Außerdem erlaubt er die heikle Form der Karfreitagsfürbitte. Deren Passage „Lasst uns auch beten für die Juden, auf dass Gott unser Herr ihre Herzen erleuchte, damit sie Jesus Christus als den Retter aller Menschen erkennen“ verstehen Juden als Aufruf zur Missionierung.
Antisemitismus-Vorwürfe erntet Benedikt auch 2009. Da will er die erzkonservativen Pius-Brüder in den Schoß der katholischen Kirche zurückholen. Diese bekämpfen den Aufbruch des II. Vatikanischen Konzils und berufen eigene Bischöfe, die wiederum ihre eigenen Priester weihen. Benedikt nimmt die Exkommunikation von vier ihrer Bischöfe zurück. Mit Richard Williamson ist ein Holocaust-Leugner darunter. Der Papst spricht von „Pannen“ und schiebt die Schuld auf die vatikanische Kommission „Ecclesia Dei“ („Kirche Gottes“), die ihn nicht informiert habe.
Merkel schaltet sich ein
Es ist Benedikts größter Fehler. Dieser erklärt nachdrücklich seine „volle Solidarität“ mit den Juden und geht auf Distanz zu einer Leugnung der Judenvernichtung im „Dritten Reich“. Der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) genügt das aber nicht. Sie verlangt von Benedikt die Klarstellung, dass der Vatikan eine Leugnung des Völkermords an den Juden strikt von sich weist. Doch der Vatikan ist der Meinung, der Papst habe sich klar genug positioniert. Einen derartigen Kampf zwischen deutschem Staat und katholischer Kirche hat es lange nicht gegeben. Teile der islamischen Welt bringt Benedikt 2006 bei seiner verunglückten Regensburger Rede gegen sich auf. Darin zitiert er einen spätmittelalterlichen byzantinischen Kaiser, der Prophet Mohammed habe nur „Schlechtes und Inhumanes“ gebracht. Der Vatikan und Benedikt selbst müssen mehrfach klarstellen, dass der Papst nicht die Werte des Islam infrage stellen wollte.
In der Ökumene kommt der Pontifex eher mit den Orthodoxen als den deutschen Protestanten voran. Noch im Jahr 2000 unterzeichnet der damalige Glaubenspräfekt Ratzinger die Erklärung „Dominus Jesus“, die die besondere Stellung der katholischen Kirche festschreibt. 2007 begrüßt Benedikt ein Dokument der Glaubenskongregation, das die katholische Kirche als einzigartig einstuft und den protestantischen Christen das Recht abspricht, sich als „Kirche im eigentlichen Sinn“ zu bezeichnen.
Als besondere Geste gegenüber den Protestanten trifft Benedikt sich 2011 bei seinem Deutschland-Besuch mit der Spitze der Evangelischen Kirche in Deutschland – im Erfurter Augustinerkloster, in dem Martin Luther im 16. Jahrhundert als katholischer Mönch wirkt. Auf reformatorischem Boden also. Dabei erzeugt der Papst eine schiefe Außenwirkung: In seiner nichtöffentlichen Rede lobt er Luther für dessen Suche nach dem gerechten Gott. Im öffentlichen Teil geht er auf Distanz: Für die Einheit der Christen bringe er „kein Geschenk“ mit. Wer dies von ihm erwartet habe, sei einem „Missverständnis des Glaubens“ aufgesessen. Denn die Annäherung zwischen den Konfessionen sei nichts, „was wir aushandeln können“ wie unter Politikern, betont der Papst.
Gespräche mit Opfern
Gesellschaftspolitisch schreibt Benedikt in drei Enzykliken über Gottes Liebe zu den Menschen und die Liebe der Menschen untereinander, kritisiert blinden Fortschrittsglauben und fordert eine gerechte Sozial- und Wirtschaftsordnung. Zu den Missbrauchsskandalen, deren Aufdeckung in seine Amtszeit fällt, äußert er sich „tief beschämt“ und redet mehrfach mit Opfern.
Ab 2011 setzt der Vatileaks-Skandal dem Papst heftig zu: Interne Dokumente gelangen an die Öffentlichkeit, die sich mit Korruption, Günstlingswirtschaft, Geldwäsche und Missmanagement im Vatikan beschäftigen. Am 17. Dezember 2012 erhält Benedikt den 300-seitigen Abschlussbericht der Kardinalskommission, den er nur einer kleinen Gruppe von Vertrauten zugänglich macht.
Zwei Monate später, am 11. Februar 2013, schlägt die Nachricht wie eine Bombe ein: Benedikt erklärt zum 28. Februar seinen Rücktritt von dem Amt, das damit erstmals seit 1294 freiwillig aufgegeben wird. Damals hatte Coelestin V. nach fünf Monaten abgedankt – wegen Überforderung und um wieder als Einsiedler zu leben. Benedikt hingegen drückt die Last seiner knapp 86 Jahre: Seine Kräfte seien „infolge des vorgerückten Alters“ nicht mehr geeignet, „um in angemessener Weise den Petrusdienst auszuüben“, begründet er seinen Schritt.
Vielleicht hat Benedikt das lange Leiden seines Vorgängers Johannes Paul II. vor Augen, dessen schwere Parkinson-Erkrankung gegen Ende seines Lebens verhindert, dass er die Weltkirche noch lenkt. Der progressive Schritt des konservativen Joseph Ratzinger erleichtert es allen Nachfolgern, Macht und Verantwortung aus der Hand zu geben.
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