Ukraine

„Neue Dimension“ des Kriegs

Nach der Sprengung des Damms am Kachowka-Stausee zeigt sich die Politik empört. Bundeskanzler Scholz übt scharfe Kritik

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Michael Backfisch
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Dieses von Planet Labs PBC zur Verfügung gestellte Satellitenbild zeigt den zerstörten Staudamm. © dpa

Cherson. Die Sprengung des Kachowka-Stausees im Süden der Ukraine sorgt weltweit für Entsetzen. Auf Internetvideos war zu sehen, wie große Wassermassen aus der Staumauer strömten. Viele Häuser standen unter Wasser. Mindestens 150 Tonnen Maschinenöl seien in den Fluss Dnipro gelangt, hieß es in Kiew. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sprach von einer „neuen Dimension“ des Ukraine-Krieges. Was steckt hinter der Staudamm-Sprengung? Und was bedeutet dies für die Kämpfe?

Die Antworten auf die wichtigsten Fragen im Überblick.

Was genau ist am Dienstagmorgen passiert?

Gegen 2.30 Uhr brach der Damm des Kachowka-Stausees im Süden der Ukraine. Grund dafür soll eine Explosion im Maschinenraum des von den Russen kontrollierten Wasserkraftwerks gewesen sein, meldete die staatliche ukrainische Betreibergesellschaft Ukrhydroenergo. Die Russen wiederum werfen der ukrainischen Seite vor, für die Sprengung verantwortlich zu sein. Seit dem Bruch des Damms stieg der Wasserspiegel des Dnipro rasant an. Auf Videos in den sozialen Medien waren überflutete Straßen und Dörfer zu sehen.

Die russischen Besatzer riefen in der am Staudamm gelegenen Stadt Nowa Kachowka den Notstand aus. Auf der russisch besetzten Seite des Dnipro seien insgesamt 600 Häuser in drei Ortschaften von den schweren Überschwemmungen betroffen, sagte der von Moskau eingesetzte Bürgermeister Wladimir Leontjew.

In dem von der Ukraine kontrollierten Cherson war der Wasserspiegel des Flusses am Nachmittag dramatisch gestiegen und trat über die Ufer. „Heute Morgen um 7 Uhr war das Wasser 400 Meter entfernt. Jetzt ist es hier – und steigt weiter“, sagte Andrej Kovanj, der Sprecher der lokalen Polizeibehörden. Viele Menschen mussten aus den ufernahen Gebieten in Sicherheit gebracht werden.

Trotz der Überflutungen und obwohl sie sich selbst wegen des steigenden Wassers zurückziehen mussten, griffen die russischen Streitkräfte die Stadt vom anderen Ufer des Dnipro aus weiter an, so wie sie es täglich machen, seit sie Cherson im vergangenen November verlassen mussten. Auch am Dienstag waren immer wieder Detonationen zu hören.

Wie wichtig ist der Staudamm für die Infrastruktur?

Der Staudamm ist am Lauf des Dnipro die sechste und letzte Staustufe vor dem Schwarzen Meer. Die Anlage staut das Wasser auf 200 Kilometern zwischen Saporischschja und Nowa Kachowka und hält etwa 18 Milliarden Kubikmeter Wasser. Aus dem Reservoir wurden weite Regionen bis hin zur Krim bewässert.

Wie hoch sind die Schäden durch die Überflutungen?

Die Überflutungen führten zur Überschwemmung von Abwasserkanälen und Lagerstätten für Giftmüll. In dem Gebiet liegen etwa 80 Orte. Die ukrainischen Behörden gaben die Zahl der Betroffenen in der „kritischen Zone“ mit 16 000 an. In der Region Cherson kontrolliert die Ukraine seit der Gegenoffensive im Sommer 2022 das westliche Ufer des Dnipro, während Russland das östliche Ufer besetzt hat, wo 22 000 Menschen leben.

Hunderttausende bekämen in den kommenden Jahren die negativen Folgen zu spüren, warnte der Chef des Präsidentenbüros in Kiew, Andrij Jermak. Durch die Vernichtung des Staudamms nehme das Bewässerungssystem für die Landwirtschaft im Süden der Ukraine Schaden. Die Ukraine gehört weltweit zu den großen Getreideexporteuren. Durch die Sprengung des Staudamms sind nach Angaben der ukrainischen Führung mindestens 150 Tonnen Maschinenöl in den Dnipro gelangt. 300 weitere Tonnen Öl drohten, auszulaufen. „Das ist die größte menschengemachte Umweltkatastrophe in Europa seit Jahrzehnten“, kritisierte Präsident Wolodymyr Selenskyj. Er warf Moskau „Ökozid“ vor.

Wem nutzt die Staudamm- Explosion?

Der Militärexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) sieht Russland hinter der Sprengung des Staudamms. „Die Russen wollen die ukrainische Gegenoffensive durcheinanderbringen, die an einigen Stellen zu wirken beginnt“, sagte Mölling. Für die ukrainische Offensive sei die Sprengung des Staudamms „ein Stolperstein, aber es ist weder ein ‚Gamechanger‘ noch eine Eskalation“. Aber: „Eine Überquerung des Flusses durch ukrainische Soldaten wird in den nächsten Tagen oder Wochen nicht möglich sein. Dadurch kann Russland einige Kräfte an andere Frontabschnitte im Osten verteilen: Für die Ukraine wird die Gegenoffensive dadurch schwieriger“, betonte Mölling.

Wie reagieren Politikerinnen und Politiker?

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) sieht in der teilweisen Zerstörung des Kachowka-Staudamms eine „neue Dimension“ des Ukraine-Kriegs. „Das ist ja auch etwas, das sich einreiht in viele, viele der Verbrechen, die wir in der Ukraine gesehen haben, die von russischen Soldaten ausgegangen sind“, sagte der Kanzler. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg übte scharfe Kritik: „Dies ist eine ungeheuerliche Tat, die einmal mehr die Brutalität von Russlands Krieg in der Ukraine demonstriert“, so Stoltenberg.

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