Nach Israels Vergeltungsschlag gegen den Iran fragt sich die Welt: Wie wird das Mullah-Regime reagieren? Ein Überblick über die wichtigsten Szenarien.
In Nahost gilt die Logik, dass jeder Angriff mit einem Gegenschlag beantwortet wird. Jahrelang bekämpften sich Israel und der Iran in einem Schattenkrieg. Israel startete begrenzte Angriffe auf iranische Kraftwerke, legte Computernetzwerke lahm oder tötete Atomwissenschaftler. Der Iran ließ Israel über Mitglieder der „Achse des Widerstandes“ attackieren. Die Angriffe wurden durch die Hisbollah im Libanon, die Hamas im Gazastreifen, schiitische Milizen im Irak und in Syrien und die Huthi im Jemen ausgeführt.
Dieser Schattenkrieg mündete nach dem Massaker der Hamas am 7. Oktober 2023 in einen punktuellen offenen Schlagabtausch. Am 1. April tötete Israel zwei Generäle der Revolutionsgarden in einem iranischen Konsulat in Damaskus. Zwei Wochen später attackierte das Mullah-Regime Israel mit rund 300 Raketen, Marschflugkörpern und Drohnen. Nach der Tötung des Hamas-Auslandschefs Ismail Hanija am 31. Juli in einem Gästehaus der Revolutionsgarden in Teheran reagierte der Iran ebenfalls scharf: Er bombardierte Israel am 1. Oktober mit 200 ballistischen Raketen. Israels Gegenschlag kam in der Nacht von Freitag auf Samstag. Die Luftwaffe griff mit mehr als 100 Kampfjets 20 Ziele an, Raketenfabriken, Boden-Luft-Raketensysteme und Luftabwehrsysteme. Wird der Iran Israel ein drittes Mal attackieren?
Szenario 1: Iran verzichtet auf einen Gegenschlag
Der Iran kann von einer Vergeltungsaktion absehen. Die Führung riskiert dann allerdings, sowohl unter ihren Anhängern im Land als auch bei den Stellvertretern in der Region weiter an Glaubwürdigkeit zu verlieren. Das Image des Regimes wurde bereits durch eine Reihe gezielter Tötungen von Spitzenpersonal beschädigt. Die Islamische Republik wirkt passiv, schwach und Israel militärisch unterlegen.
In der Logik des Nahen Ostens wird der Verzicht auf einen Gegenschlag als Schwäche ausgelegt und geht mit einem Gesichtsverlust einher. Dies kann kurzfristig dazu führen, dass sich Verbündete wie die Huthi-Miliz im Jemen oder schiitische Verbände im Irak und in Syrien abwenden und als eine Art „freie Radikale“ eigene Militäraktionen durchführen. Auf mittlere Sicht ist es denkbar, dass Oppositionelle im Iran gestärkt werden und das Regime herausfordern. Ebenfalls ist es möglich, dass sich separatistische Kräfte etwa in der Provinz Sistan-Belutschistan ermutigt sehen.
Szenario 2: Iran übt mit einer symbolischen Aktion Vergeltung
Nach Israels jüngstem Angriff waren die ersten Signale aus dem Iran eher beschwichtigend. So sprachen die Staatsmedien von „begrenzten Schäden“. Die Reaktion von Irans oberstem politischen und religiösem Führer Ali Chamenei war vergleichsweise moderat: „Das vom zionistischen Regime begangene Böse darf weder überbewertet noch unterschätzt werden“, sagte er.
Dies deutet darauf hin, dass der Iran kein Interesse an einem großen Vergeltungsangriff hat. Er dürfte Israel vermutlich mit einem eher symbolischen Gegenschlag antworten. Dies könnten Raketen- oder Drohnenangriffe auf militärische Ziele wie Luftabwehrbasen oder Flugplätze sein. Dabei wird es darauf ankommen, zivile Opfer zu vermeiden. Israel hat für diesen Fall mit einem massiven Gegenschlag gedroht.
Szenario 3: Der Iran antwortet mit einem massiven Gegenangriff
Der Iran kann mit einem breiten Arsenal zurückschlagen, noch härter als am 1. Oktober. Das würde bedeuten, dass er nicht nur militärische Ziele in Israel angreift, sondern auch zivile Infrastruktur, Kraftwerke, Pipelines oder den Flughafen in Tel Aviv. In Teheran zirkulierten bereits Szenarien von einer Attacke mit bis zu 1000 Raketen.
Ein solches Vorgehen würde fast zwangsläufig einen weiteren Gegenschlag Israels provozieren. Dann wären für die Israelis vermutlich auch iranische Nuklear- und Öl-Anlagen kein Tabu mehr. Da die iranische Flugabwehr durch die Attacke vom Samstag geschwächt ist, wären die potenziellen Schäden bei einem weiteren israelischen Angriff enorm.
Eine wichtige Frage ist, wie einflussreich die Betonköpfe in der Führung in Teheran sind. Die iranische Zeitung „Keyhan“, Stimme der radikalen und religiösen Hardliner im Land, macht sich für einen massiven Vergeltungsangriff stark: „Die Antwort Irans wird weit schwerwiegender und härter sein, als sie sich vorstellen können.“
Über all dem schwebt die Machtfrage. Der oberste Führer Chamenei ist 85 Jahre alt und soll schwer krank sein. Einen Nachfolger hat er nicht aufgebaut. Unter den mächtigen Revolutionsgarden - der Schutztruppe des Regimes - haben die Hardliner die Oberhand. Was niemand weiß: Wie stark ist Chamenei noch?
Szenario 4: Langfristige Gefahr durch iranisches Atomprogramm
Selbst wenn Teheran auf einen Gegenschlag verzichten würde: Der Iran und seine Verbündeten im Libanon, im Gazastreifen, im Irak, in Syrien und im Jemen haben das langfristige Ziel, Israel zu vernichten. Das Mullah-Regime hat durch die massive Schwächung der Hisbollah nur noch wenig Abschreckungspotenzial. Der Besitz einer Atombombe könnte die strategische Position des Iran schlagartig verändern. Zu befürchten ist daher, dass die Führung in Teheran ihr Nuklear-Programm hochfährt und den Bau einer Atombombe anstrebt. In den Revolutionsgarden gibt es bereits derartige Stimmen. Israel hat ebenso wie die USA signalisiert: Der Besitz von Kernwaffen würde nicht geduldet. Der Iran müsste mit schweren Angriffen auf seine Atomanlagen und Infrastruktur rechnen. Ein großer Krieg in der Region wäre vermutlich unvermeidlich. Die Nuklear-Frage hängt wie ein Damoklesschwert über dem Konflikt in Nahost.
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Bergsträßer Anzeiger Plus-Artikel Kommentar Israel will keinen großen Krieg mit dem Iran