Mannheim. Herr Professor Helbling, haben Sie eine oder zwei Staatsbürgerschaften?
Marc Helbling: Ich habe nur eine Staatsbürgerschaft.
Da haben Sie ja Glück. Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz hat mit seinem Vorschlag, straffälligen Doppelstaatlern die Staatsbürgerschaft zu entziehen, für Aufregung gesorgt. Droht eine Staatsbürgerschaft zweiter Klasse?
Helbling: Wenn der Vorschlag Realität wird, könnte man das so sehen. Dann müssten Menschen mit Doppelpass ja grundsätzlich damit rechnen, dass sie die deutsche Staatsbürgerschaft verlieren können. Allerdings ist noch nicht klar, von welchen Straftaten wir da überhaupt sprechen. Geht es um Terrorismus, Mord oder auch um weniger schwere Vergehen?
Hat Sie der Vorschlag von Merz überrascht?
Helbling: Nicht unbedingt. Herr Merz und Teile der CDU haben sich in letzter Zeit mehrfach für strengere Einwanderungsgesetze ausgesprochen, um sich in dieser Frage der AfD zu nähern.
Stichwort AfD: Sind solche Vorschläge nicht typisch für rechtsextreme Parteien? Hat sich da der Diskurs verschoben?
Helbling: Auf jeden Fall, und zwar ganz klar nach rechts. Wir beobachten in Deutschland, aber auch in anderen Ländern, dass die Diskussion über Migrationsfragen sehr stark von populistischen, rechtsextremen Parteien geprägt wird, die die Parteien der Mitte vor sich her schieben. Das führt dann dazu, dass Parteien wie die CDU, aber auch die SPD, restriktivere Positionen einnehmen.
Kommt das bei den Wählerinnen und Wählern an?
Helbling: Nein, im Gegenteil. Die Strategie von Merz ist eigentlich, Wähler von der AfD zurückgewinnen. Aber wir wissen aus der Forschung, dass der Schuss nach hinten losgeht. Tendenziell hilft die Übernahme solch extremer Positionen eher den Rechtsaußenparteien, indem es ihre Aussagen legitimiert.
Marc Helbling im Überblick
Marc Helbling ist Professor für Soziologie mit Schwerpunkt Migration und Integration an der Universität Mannheim.
Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Migrations- und Staatsbürgerschaftspolitik, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie, populistische und extremistische Einstellungen, Ursachen von Migration.
Außerdem ist Helbling Mitglied des Sachverständigenrats für Integration und Migration. mm
Was ist Ihr Eindruck. Will die CDU wirklich die deutsche Staatsbürgerschaft entziehen können oder geht es nur darum, gewisse Wählerschichten anzusprechen?
Helbling: Das ist natürlich jetzt Teil des Wahlkampfs. Ich würde aber nicht grundsätzlich ausschließen, dass Herr Merz das nach den Wahlen umsetzen will.
Ist der Entzug der Staatsbürgerschaft überhaupt ein sinnvolles Mittel, um etwas gegen Kriminalität zu unternehmen?
Helbling: Gerade was sehr schwere Straftaten, etwa Terroranschläge, angeht, würde ich bezweifeln, dass die Drohung, die deutsche Staatsbürgerschaft zu verlieren, abschreckend wird. Diese Menschen haben ja ganz besondere Motive oder Gründe.
Und wie ist das bei „normalen“ Kriminellen, die möglicherweise eine schwere Straftat wie Mord oder Totschlag begangen haben?
Helbling: Die Androhung, ausgewiesen zu werden und die Strafe in einem anderen Land abzusitzen, kann in der Tat abschreckend wirken. Und sie kann ein wichtiges politisches Signal für weitere Personen oder die eigene Gesellschaft sein, dass man sowas nicht akzeptiert und restriktiv durchgreift.
Die meisten Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft sind nicht kriminell und werden es auch nie sein. Welche Auswirkungen haben solche populistischen Forderungen auf sie und das gesellschaftliche Klima?
Helbling: Ganz grundsätzlich erzeugen sie ein Klima der Angst oder der Verunsicherung. Das kann dazu führen, dass sich Menschen mit doppelter Staatsbürgerschaft nicht willkommen und nicht als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft fühlen. Obwohl sich die meisten an die Gesetze halten und eigentlich nicht betroffen sein sollten, entsteht dann das Signal, man muss aufpassen bei diesen Menschen.
Im Grundgesetz steht in Artikel 16, die deutsche Staatsangehörigkeit darf nicht entzogen werden.
Helbling: Dort steht aber auch, dass man grundsätzlich den Verlust der Staatsangehörigkeit auf Grundlage eines Gesetzes regeln kann, solange eine Person nicht staatenlos wird. Daher kommt es auch nicht von ungefähr, dass Herr Merz von Doppelstaatsbürgern spricht, denn die wären bei einem Entzug nicht staatenlos. Insofern könnte ich mir schon vorstellen, dass eine Verschärfung ohne Grundgesetzänderung möglich ist. Aber das ist eine juristische Frage beziehungsweise eine Frage für das Bundesverfassungsgericht. Und vor dieses würde ein solches Gesetz wahrscheinlich gebracht werden.
Sollte eine Grundgesetzänderung nötig sein, bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag. Wie realistisch ist so etwas?
Helbling: Das würde die Union wohl nur mit Hilfe der AfD schaffen. Und da habe ich Zweifel, dass die CDU das wirklich will.
Früher hieß es: Ein Bürger, eine Staatsbürgerschaft. Heute haben Schätzungen zufolge zwischen 2,9 und 4,3 Millionen Deutsche mindestens eine weitere Staatsbürgerschaft. Wie kam es dazu?
Helbling: Das hat vor allem mit der zunehmenden Migration in einer globalisierten Welt zu tun. Immer mehr Menschen haben Beziehungen zu zwei Ländern. Und deswegen hat es die Politik vielerorts als sinnvoll erachtet, das anzuerkennen. Mittlerweile bieten ungefähr drei Viertel der Länder weltweit die Möglichkeit doppelter Staatsbürgerschaft an. Die Frage ist, wie diese dann an Kinder und Enkel weitergegeben werden kann.
Gibt es dazu Lösungsvorschläge?
Helbling: Jemand, der nach Deutschland gekommen ist und in zwei Ländern gelebt hat, kann sich in beiden Kulturen zu Hause fühlen. Doch die Kinder dieser Person möglicherweise nicht. Es gibt Ideen, die Weitergabe zu begrenzen, zum Beispiel nur bis zur nächsten Generation, also nur an die Kinder, nicht an die Enkel.
Eine andere Idee ist die „ruhende Staatsbürgerschaft“, bei der die zweite Generation die Wahl zwischen zwei Pässen hat, aber nur einen aktiv nutzen kann oder sich ab einem bestimmten Alter, sagen wir mit 18, entscheiden muss.
Wie sehen Sie das?
Helbling: Ich persönlich finde es gut, wenn es eine Beschränkung gibt - in der zweiten und vor allem dritten Generation.
Wie wichtig finden Sie es, dass die Gesellschaft über Doppelstaatsbürgerschaft und ihre Implikationen nachdenkt?
Helbling: Migration und Staatsbürgerschaft sind wichtige Themen. Und natürlich ist es völlig legitim über die Doppelstaatsbürgerschaft nachzudenken. Kann man sich mit einem Land identifizieren oder mit zweien? Wie weit soll das gehen? Und wie soll das reguliert werden? Aber das heißt ja nicht, dass man immer gleich provokative Vorschläge machen muss oder immer mit restriktiven Vorschlägen in den Wahlkampf gehen muss.
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