Verteidigung

Experte Gustav Gressel: „Das Risiko eines Weltkrieges besteht“

Der Militärexperte Gustav Gressel rät den Europäern, massiv aufzurüsten. Er sieht Putins Russland nicht als einzige Gefahr.

Von 
Michael Backfisch
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Ukrainische Soldaten feuern im Osten des Landes auf russische Stellungen. „Russland kann Europa nicht angreifen, solange es in der Ukraine im Krieg steckt“, ist sich Militärexperte Gustav Gressel sicher. © Libkos/AP/dpa

Berlin. Der einstweilige Stopp der US-Waffenlieferungen an die Ukraine habe eine russische Attacke auf Nato-Gebiet wahrscheinlicher gemacht, sagt der renommierte Militärexperte Gustav Gressel von der Landesverteidigungsakademie in Wien. Für Europa hat er einen Rat: „Die Top-Priorität ist, dass die Ukraine überlebt. Russland kann Europa nicht angreifen, solange es in der Ukraine im Krieg steckt.“

Herr Gressel, US-Präsident Donald Trump hat die Waffenlieferungen an die Ukraine vorerst ausgesetzt: Droht der Ukraine nun ein Tod auf Raten?

Gustav Gressel: Das kommt darauf an, wie sich der Rest der Welt verhält. Zuallererst muss sich Europa bewusst sein, dass die USA nicht Teil der Lösung sind, dass Donald Trump keinen Waffenstillstand zustande bringt. Danach wäre es wichtig, dass die Europäer die amerikanischen Waffenlieferungen so schnell wie möglich ersetzen.

Kann Europa das überhaupt?

Gressel: Nicht ganz, aber in vielen Teilen ja. Zum Beispiel bei Artilleriemunition oder Landfahrzeugen. Probleme gibt es bei der Flugabwehr – vor allem bei Patriot-Raketen. Hier können die Europäer nicht die Menge an Systemen ersetzen, die die Ukraine bräuchte. Schwierigkeiten bereitet auch der Ersatz für Raketenartillerie-Munition, etwa für Himars-Mehrfachraketenwerfer. Die Bewaffnung und Wartung der amerikanischen F-16-Kampfjets sind ebenfalls ein wunder Punkt. Daher stellt sich die Frage, ob die Europäer jetzt nicht besser französische Mirage-2000-Kampfflugzeuge oder Eurofighter an die Ukraine liefern.

Der österreichische Ex-Offizier und Militärexperte Gustav Gressel lehrt an der Landesverteidigungsakademie in Wien. © picture alliance / dpa

Sollte der Trump-Berater Elon Musk sein Satelliten-Netzwerk Starlink abschalten, wären die ukrainischen Streitkräfte von wichtigen Informationen abgeschnitten. Sehen Sie Alternativen?

Gressel: Zumindest derzeit keine guten. Zwar sind andere Anbieter von Satellitenkommunikation auf dem Markt. So kreisen Satelliten in hohen Umlaufbahnen, etwa 35.000 Kilometer über der Erde. Hier ist allerdings die Datenübertragungsrate wegen der weiten Entfernung sehr beschränkt. Dagegen haben die Satelliten im unteren Orbit ab 300 Kilometern eine gute Datenübertragungsrate. Das Problem: Es sind nicht viele Satelliten von diesem Typ verfügbar. Starlink hat mehr als 5000 derartiger Satelliten im All. Die Konkurrenten – darunter britische Firmen – kommen dagegen nur auf 250 bis 300. An der Front hat die Ukraine hingegen mit selbst gefertigten Glasfaserkabeln und Funkstationen Alternativen entwickelt.

Wie lange kann die Ukraine ohne Amerikas Unterstützung durchhalten?

Gressel: Die Amerikaner schätzen, dass die Ukraine im Falle eines US-Rückzugs nach sechs Monaten zusammenbricht. Ich halte das für zu pessimistisch. Diese Annahme beruht darauf, dass die Europäer nicht mehr zustande bringen als jetzt und dass sie ohne die Unterstützung Washingtons kalte Füße bekommen. Je mehr und je schneller Europa Hilfe leistet, desto mehr verlängert sich die Überlebenszeit der Ukraine.

Trump tut derzeit alles, um den russischen Präsidenten Wladimir Putin zu umgarnen. Könnte das den Kremlchef ermuntern, eher früher als später Nato-Territorium anzugreifen?

Gressel: Absolut. Alle bisherigen Berechnungen, wann Putin Nato-Gebiet attackieren könnte, basieren zum Großteil auf Überlegungen, die nach Trumps Ankündigungen revidiert werden müssen. Wenn Trump die Militärhilfe für die Ukraine einstellt und im nächsten Schritt vielleicht auch die Sanktionen gegen Moskau aufhebt, wird sich die Aufrüstung Russlands dramatisch beschleunigen. Ein Krieg binnen kürzerer Zeit wird dann wahrscheinlicher. Alles hängt davon ab: Wie schnell können die Europäer nachrüsten? Können sie die Ukraine so unterstützen, dass Russland dort gebunden ist? Der allerschlimmste Fall wäre, wenn Europa seine Waffenlieferungen an Kiew einstellt, die EU durch internen Streit gelähmt wird und die Amerikaner abziehen. Dann könnte es sein, dass Russland in der zweiten Hälfte 2026 Nato-Territorium angreift.

Wie können die Europäer das verhindern?

Gressel: Es kommt jetzt darauf an: Was tut Europa in den nächsten Wochen, Monaten und Jahren? Und wie glaubhaft ist das Ganze aus russischer Sicht? Die Russen sind sehr auf die USA fixiert. Für Putin funktioniert die Nato ähnlich wie der Warschauer Pakt. Damals waren Beschlüsse der Sowjetunion quasi Gottes Wort, nach dem sich alle richten mussten. Die Russen gehen davon aus, dass sich der Westen mit dem Rückzug der Führungsmacht Amerika auflöst. Diese Annahme könnte sie zu einem Angriff verleiten. Um das zu verhindern, müssen die Europäer durch ihr Auftreten und ihre Sprache glaubhaft machen, dass sie Zähne haben und dass die Russen es nicht probieren sollten.

Wie könnte Putin testen, ob die im Artikel 5 des Nato-Vertrags festgeschriebene Bündnispflicht noch gilt?

Gressel: Indem er einen Nato-Staat angreift und schaut, was der Rest tut. Sollte es Putin gelingen, die Ukraine zu kontrollieren, könnten seine Truppen sofort nach Moldawien weitermarschieren. Danach würde er vermutlich eine Attacke auf das Nato-Land Rumänien versuchen, wo es eine große Unzufriedenheit mit den politischen Eliten gibt. Moskau würde interne Streitereien anstacheln und mit Drohungen sowie Aufmärschen unterlegen. Danach könnte Russland einen Vorwand schaffen, der im Westen breit diskutiert wird. Im Zuge einer Krise, die Moskau ganz gezielt befeuert, würde es zu einer militärischen Aktion kommen.

Wie hoch schätzen Sie die Gefahr ein, dass es in Europa zu einem großen Krieg kommt?

Gressel: Wenn wir nicht handeln, liegt die Wahrscheinlichkeit eines großen Krieges in Europa bei 80 Prozent.

Könnte sich daraus ein Weltkrieg entwickeln?

Gressel: Das Risiko eines Weltkrieges besteht. Es hängt davon ab, was die Chinesen in Ostasien machen. Ich glaube nicht, dass die USA unter Trump einen Finger rühren, wenn die Volksrepublik in Taiwan einmarschiert. Die Frage ist: Was passiert, wenn sich Peking nach einer Unterwerfung Taiwans ermuntert sieht, weitere Gebiete zu erobern? Denkbar ist etwa die Besetzung japanischer oder vietnamesischer Inselketten. Angesichts der Unentschlossenheit und Schwäche der Vereinigten Staaten könnte China irgendwann auch die westpazifische Insel Guam angreifen, auf der sich eine US-Militärbasis befindet. Dann wäre Guam das neue Pearl Harbor. Erst dann stünden die Amerikaner im Krieg.

Was sind jetzt die Top-Prioritäten, mit denen die Europäer ihre Verteidigungsfähigkeit erhöhen müssen?

Gressel: Die Top-Priorität ist, dass die Ukraine überlebt. Russland kann Europa nicht angreifen, solange es in der Ukraine im Krieg steckt. Darüber hinaus müssen die Europäer ihre Streitkräfte reformieren, dass sie durchhaltefähiger sind. Sie müssen dahin kommen, dass sie einen Krieg mit Russland im Bereich von Material und Personal zu jeder Zeit stemmen können. Auch die Wiedereinführung der Wehrpflicht gehört dazu. Das braucht natürlich Zeit – und diese Zeit kann uns nur die Ukraine erkaufen.

Die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat angekündigt, dass sie 800 Milliarden Euro für die Stärkung von Europas Verteidigung mobilisieren will. Ein Schritt in die richtige Richtung?

Gressel: Die Bereitstellung von Geld ist wichtig, aber eben nicht alles. Es geht auch um die Personalstruktur und die logistische Tiefe unserer Streitkräfte. Wir müssen an vielen Dingen gleichzeitig arbeiten.

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