Afrin. Häuser sind zu Ruinen kollabiert, Menschen versuchen verzweifelt, Überlebende aus den Trümmern zu ziehen: Die Bilder aus Dschindires und Shaikh al Hadid ähneln denen aus den anderen Erdbebenregionen in Syrien und der Türkei. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Die beiden Kleinstädte gehören zum Distrikt Afrin im äußersten Nordwesten Syriens, und Helfer haben es schwer, dorthin zu gelangen. Afrin ist seit 2018 von der Türkei und ihren islamistischen Verbündeten besetzt, in Teilen der Region herrscht die dschihadistische Gruppierung Hayat Tahrir al-Sham.
Am Dienstagmorgen warten Helfer der Barzani Charity Foundation (BCF) noch immer an der Grenze zu den syrischen Kurdengebieten. Die BCF ist eine Hilfsorganisation, die seit vielen Jahren Flüchtlinge in der Autonomen Region im Nordirak betreut und immer wieder auch jenseits der Grenze Menschen im Norden Syriens unterstützt. Im Norden Syriens ist der Siedlungsschwerpunkt der kurdischen Minderheit. Kurz nach dem Beginn des Kriegs in Syrien vor zwölf Jahren begannen die Kurden in der Region damit, Selbstverwaltungsstrukturen aufzubauen.
Die Türkei wirft den nun in Nordsyrien herrschenden kurdischen Parteien vor, Verbindungen zur kurdischen Arbeiterpartei PKK zu haben, die seit den 80er-Jahren einen Kampf für mehr Rechte für die kurdische Minderheit in der Türkei führt und in vielen Ländern Europas als Terrororganisation gilt.
Region Afrin massiv getroffen
Im Jahr 2018 führte Ankara einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Region Afrin im äußersten Nordwesten Syriens, eine Region, die bis dahin von der Gewalt des Kriegs in Syrien verschont geblieben war. Zehntausende Menschen flohen damals vor der Invasion, bis heute leben viele von ihnen unter prekären Umständen nahe der Stadt Tall Rifaat.
Die Erdbebenkatastrophe hat die Region Afrin mit ihren über 360 Dörfern und Kleinstädten massiv getroffen. Dschindires mit ehemals 10 000 Einwohnern und Shaik al Hadid mit ehemals 5000 Bewohnern sollen dem Erdboden gleichgemacht worden sein. Auch die Flüchtlingscamps bei Tall Rifaat und Teile der Großstadt Aleppo sollen schwer beschädigt worden sein. „Es fehlt dort an allem. Personal, Medikamenten, Gerätschaften, Lebensmittel, Wasser, Zelten“, erzählt Ismahil Abdulaziz Mustafa, der stellvertretende Vorsitzende der BCF. Die Organisation hat einen Mitarbeiter vor Ort, in die Katastrophenregion in Syrien konnte sie bis Dienstagmittag noch nicht reisen. „Wir müssen mit der Besatzungsmacht und der Hayat Tahrir al-Sham verhandeln“, sagt Mustafa.
Auch mit Rebellen verhandeln
Die Hayat Tahrir al-Sham (HTS) ist eine der größten noch existierenden Rebellengruppierungen in Syrien. Vormals firmierte sie als al-Nusra-Front und verstand sich als Teil der Al Kaida. Als Handlanger der Türkei ist in der Region die Syrische Nationale Armee (SNA) aktiv, ein Bündnis unterschiedlicher islamistischer Milizen.
Ismail Abdulaziz Mustafa ist dennoch optimistisch, dass seine Organisation es trotz der widrigen Umstände schafft, Hilfe in die betroffenen syrischen Gebiete zu bringen. In die Türkei ist die BCF bereits am Montag völlig problemlos gelangt und konnte dort Unterstützung leisten.
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