Iran

Das Protokoll des Aufstands

Die Ingenieurin Aida notiert, was sie im Kampf gegen das Mullah-Regime erlebt

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Aufgezeichnet von Omid Rezaee
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Die Grausamkeiten halten an: Zwei Frauen fliehen vor der Polizei während der Proteste in der Innenstadt von Teheran. © Uncredited/AP/dpa

Berlin/Teheran. Der Tod von Mahsa Amini war ein Fanal. Die 22-Jährige starb im Gewahrsam der iranischen Sicherheitsbehörden. Die Religionspolizei hatte sie festgenommen. Angeblich trug sie ihr Tuch nicht dicht genug um den Kopf, ihr Haar schaute noch heraus. Seitdem schreien die Iranerinnen der Staatsgewalt Tag für Tag ihre Wut entgegen, schneiden ihr Haar ab, verbrennen die Schleier, werden verprügelt, verhaftet, getötet. Mindestens 133 Menschen sollen umgekommen sein. Doch die Frauen geben nicht auf. Der Protest ist zu einer Bedrohung für das iranische Regime geworden. Aida ist eine dieser Frauen. Wir haben ihren Namen geändert, weil es sicherer für sie ist, wir zeigen ihr Bild auch nicht. Sie lebt im Norden Teherans, ist Anfang 30, ledig. Sie hat Ingenieurwissenschaften studiert, arbeitet für ein technisches Unternehmen im Bereich Social-Media-Marketing. Sie hat sich Notizen über die Tage gemacht. Es ist das Protokoll des Aufstands.

Donnerstag, 15. September: Eine Freundin schreibt mir, dass sie Mahsa ins Krankenhaus gebracht haben. Als Erstes geht mir durch den Kopf, dass ich es hätte sein können. Auch mich hat die Sittenpolizei oft verhaftet.

Freitag, 16. September: Mahsa ist tot. Ich aktiviere meine Twitter-Seite. Da sehe ich, dass sich Frauen und Männer vor dem Krankenhaus versammeln wollen – und will dabei sein. Die Polizisten gehen auf uns los. Ich dachte erst, es wird wie immer sein. Proteste bringen nichts außer Verhaftungen. Doch die Stimmung unter den Menschen war von Mut geprägt. Wir alle wissen: Mahsa wurde getötet. Ich will das nicht mehr hinnehmen. So etwas muss doch Konsequenzen haben!

Samstag, 17. September: Mahsa wird beigesetzt. Als ich die Videos sehe, auf der die Menschen „Frau, Leben, Freiheit“ riefen, spüre ich zum ersten Mal Hoffnung, dass man sich organisieren kann und wir eine Stimme haben.

Sonntag, 18. September: In Teheran gibt es heute einen Aufruf zu einer Protestversammlung vor dem Parlament. Warum soll ich mit einem Parlament, das mich nicht vertritt und das ich nicht anerkenne, sprechen? Man klagt einen Mord doch nicht beim Mörder an.

Montag, 19. September: Ein neuer Aufruf verbreitet sich – Demonstration auf der Hijab-Straße. Das berührt mich, nicht nur weil er die Initiative einiger Frauenrechtsaktivistinnen ist. Die Hijab-Straße als Protestort zu wählen, finde ich symbolisch sehr passend. (Hijab ist das Kopftuch, Anm. d. Red.) Und dann kommen mehr Menschen, als ich je gedacht hätte. Auch die Sicherheitskräfte wirken überrascht. Die Menschen schließen sich zusammen, wir rufen Parolen wie „Frau, Leben, Freiheit“. Niemals werde ich diese Momente vergessen. Die Polizei setzt Tränengas ein, ich bekomme es ab. Ich will wegrennen, kann aber weder sehen noch atmen. Drei Polizisten laufen hinter mir her, erwischen mich. Sie prügeln auf mich ein, ich nehme die Arme über den Kopf, um ihn zu schützen. Andere Demonstranten befreien mich. Es ist einfach nur schrecklich. Ich habe das Gefühl, mein Herz hört vor Angst auf zu schlagen. Ich höre Schüsse, der Rauch ist überall, Autos und Mülltonnen brennen, ich laufe und laufe. Ich sehe, wie Polizisten Frauen und Männer packen. Niemand kann sie befreien. Ich sehe ihre Gesichter noch tagelang vor mir.

Dienstag, 20. September: Heute Morgen bin ich bei einem Arzt. Ich will sicher sein, dass ich nicht ernsthaft verletzt wurde. Als es dunkel wird, gehe ich wieder auf die Straße, wieder sind viele Menschen dort, wieder viel mehr Frauen als Männer. Auf der Fatemi-Straße, wo das Innenministerium liegt, zünden wir ein Feuer an und verbrennen unsere Kopftücher. Anders als gestern sind mehr Zivilpolizisten mit Pistolen zu sehen. Die Polizei schießt mit Paintballkugeln, die uns farblich markieren, und mit Schrotflinten auf uns. Ich bin verletzt und erschöpft, als ich nach Hause komme. Das Großartige, worauf ich stolz bin, war wieder die massive Präsenz von Frauen – überwiegend ohne Kopftuch. Dieses Bild werde ich für immer behalten.

Mittwoch, 21. September: Das Internet funktioniert immer schlechter, ich kann kaum noch arbeiten.

Donnerstag, 22. September: Den zweiten Tag in Folge höre ich das Zischen der Kugel, die an mir vorbeifliegt.

Freitag, 23. September: Heute Abend kommen viele auf die Straße. Es ist wichtig, weil das Regime seine Anhänger nach dem Freitagsgebet auf die Straße geschickt hatte, um für den Staat zu demonstrieren. Die staatsorganisierte Demo hat früher das Ende des Aufstands bedeutet. Diesmal ist es anders.

Sonntag, 25. September: Nachts frage ich mich, wie lange ich weitermachen kann. Bis ich verhaftet werde? Bis ich angeschossen werde?

Montag, 26. September: Sich auf großen Straßen im Zentrum zu versammeln, ist unmöglich geworden. Sie greifen an, sobald sich drei Menschen zusammenschließen.

Donnerstag, 29. September: Mittlerweile kommen weniger Menschen auf die Straße. Und auch die, die sich trauen, schaffen es kaum, sich zusammenzuschließen. Zwei Gruppen von Demonstranten rufen „Tod dem Diktator“ – auch ein Freund von mir und ich. Drei Zivilpolizisten erwischen uns. Ich bereite mich gedanklich aufs Gefängnis vor. Sie fotografieren uns, lassen uns aber wieder los. Die nächsten Tage werde ich Angst haben, dass sie nach mir suchen könnten.

Samstag, 1. Oktober: Heute sind wir tagsüber auf die Straße gegangen. Zehn Stunden weglaufen und gejagt werden. Zehn Stunden Steine werfen und Tränengas einatmen,

Montag, 3. Oktober: Gestern wurden die Studierenden der Scharif-Universität angegriffen. Ich fahre mit einigen Freunden hin, um die eingekesselten Studentinnen und Studenten zu unterstützen. Aber wir konnten nicht helfen, werden selbst mehrfach von Schrotflinten getroffen. Die Nacht verbringen wir damit, uns gegenseitig die Schrotkörner aus Armen und Beinen zu holen.

Montag, 4. Oktober: Die Straßen sind ruhiger geworden, zumindest in Teheran. Ich gehe am Tag raus. Ohne Kopftuch, mit einem kurzärmeligen T-Shirt. Wenn ich Frauen begegne, die ähnlich angezogen sind, lächeln wir uns an. Dieses Solidaritätszeichen ist für mich die Fortsetzung der Straßenproteste.

Freitag, 7. Oktober: Mittlerweile vergesse ich manchmal, ein Kopftuch mitzunehmen, wenn ich rausgehe. Es gibt mehr Sicherheitskräfte als einfache Leute auf der Straße. Für Sonnabend sind neue Proteste geplant. Ich werde dabei sein. Die Hoffnung hält mich am Leben.

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