Stuttgart. Winfried Kretschmanns Anmerkungen zum kostengünstigen Bauen haben aufhorchen lassen. Angesichts von Inflation und steigenden Zinsen sowie dem damit verbundenen Auftragsrückgang in der Baubranche hatte der Ministerpräsident in der Landespressekonferenz erklärt: „In der Vergangenheit könnten in der Bauwirtschaft falsche Schwerpunkte gesetzt worden sein. Wenn man bedenkt, dass der CO2-Ausstoß beim Bauen selber bis zu fünf- oder sogar achtmal so groß ist wie in der gesamten Betriebsphase, dann ist es eine Fehlallokation, bei der Beurteilung eines Gebäudes nur auf die Energiestandards im Betrieb zu setzen.“ Und: „Wir können offensichtlich auch einfacher und günstiger bauen, ohne die Klimaziele dadurch zu verfehlen.“
Um dieses Ziel zu erreichen, müsse man über Veränderungen reden, betont Kretschmann nun auf Nachfrage unserer Redaktion. Im Baubereich gebe es eine Dynamik, Standards immer weiter nach oben zu schrauben. Kretschmann: „Das ist einer der Gründe, warum Bauen immer teuer und für viele unbezahlbar wird.“
Deshalb müssten die Regularien auf den Prüfstand. Dabei gehe es nicht nur um vom Staat vorgegebene Standards, sondern auch um solche, die sich in der Praxis herausgebildet hätten und landläufig unter „anerkannte Regeln der Technik“ bekannt seien. Kretschmann: „Es geht darum, wie es ermöglicht werden kann, dass Bauherren in einzelnen Vorhaben auf verzichtbare Standards tatsächlich verzichten können.“
Blick auf Kosten und Nutzen
Energiestandards, so macht Kretschmann deutlich, seien und blieben weiterhin wichtig. Auch gehe es nicht darum, auf Dämmung zu verzichten: „Wir müssen aber genauer hinschauen, ab wann sich das Kosten-Nutzen-Verhältnis dreht.“ Wenn bereits ein hoher Dämmstandard erreicht sei, komme ein Zeitpunkt, an dem es nicht sinnvoll sei, diesen noch weiter zu erhöhen.
Diese Einschätzung teilt Thomas Auer. Der Professor der Technischen Universität München beschäftigt sich mit „einfachem Bauen“ und liefert Impulse für den von der Landesregierung initiierten Strategiedialog „Bezahlbares Wohnen und innovatives Bauen“ (SDB). „Mit unseren Forschungshäusern in Bad Aibling haben wir gezeigt, dass wir schon im Rahmen des bestehenden Regelwerks Bauen vereinfachen können und trotzdem eine große Qualität erzielen“, betont Auer.
In den Häusern habe man die Technik reduziert und auf maschinelle Lüftung verzichtet. Auch gebe es dort keine Keller, keine Rollläden und keine Wärmedämmverbundsysteme an den Außenwänden. Ebenso habe man auf Estrich verzichtet und alle Installationen als Sichtinstallationen eingebaut – also sichtbare Rohre und Kabelschächte.
Es gebe aber auch noch weitere Standards vor allem im Wohnungsbau, über deren Absenkung man diskutieren sollte, etwa den Stellplatzschlüssel oder die Anforderungen an den Schallschutz. Gerade auf diesem Gebiet seien Abstriche möglich und sinnvoll, zumal für den Schallschutz vor allem Beton mit hohen CO2-Emissionen benötigt werde. Auch Lüftungssysteme gehörten auf den Prüfstand. Sicher gebe es dafür Gründe, etwa eine laute Straße. Zahlreiche Studien aber zeigten, dass sich vor allem im Geschosswohnungsbau die gewünschte Einsparung nicht einstelle, da zahlreiche Nutzer trotzdem zum Lüften die Fenster öffneten.
Einfaches Bauen ist möglich und billiger. Davon ist Auer überzeugt. Allein die Kosten für den Bau der von ihm mitgestalteten Modellhäuser bewegten sich „unter den marktüblichen Preisen“. Auch beim CO2-Ausstoß ist er optimistisch. Das Verhältnis zwischen grauen Emissionen beim Bau eines Hauses und den Emissionen während des Lebenszyklus eines Hauses liege, momentan eher bei 1:1. Die von Kretschmann genannte Zahl von fünf- bis achtfach höheren grauen Emissionen sei aber angesichts der Tatsache, dass immer mehr erneuerbare Energien eingesetzt würden, nicht unrealistisch.
Neubau und Altbausanierung
Bei der Neuorientierung, darauf legt Kretschmann Wert, gehe es sowohl um den Neubau als auch um die Altbausanierung und nicht nur um den Wohnungsbau, sondern auch um Industrie-, Büro- und Gewerbebauten. Allerdings komme für den Wohnungsbau eine gesellschaftliche, soziale Komponente zum Tragen. Gerade bei Umbauprojekten, die mitunter zu starken Preissteigerungen von Mieten führten, könne einfaches Bauen preisdämpfend wirken und gleichzeitig klimagerechter sein.
Das Staatsministerium will nun in Arbeitsgemeinschaften aufarbeiten, wie mit den sogenannten anerkannten Regeln der Technik umgegangen werden kann.
Nicole Razavi (CDU), Ministerin für Landesentwicklung und Wohnen, fordert schon länger einen Paradigmenwechsel: „Wenn wir wirklich etwas erreichen wollen, dann müssen wir zu einer Gesamtbilanz der Treibhausgaswirkung von Gebäuden kommen - für den gesamten Lebenszyklus und nicht nur für den aktuellen Betrieb.“
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