Zwingenberg. Verträumter Blick, leicht geöffneter Mund und ein leichtes Zucken im rechten Daumenbereich: Carrera-Fans mit einschlägiger Vergangenheit sind leicht zu erkennen, wenn sie plötzlich einer kleinen Rennstrecke gegenüberstehen. Die berühmten schwarzen Kunststoffspuren haben einst bei vielen minderjährigen Piloten das Jugendzimmer durchkreuzt.
Man erinnert sich an eine aufgeladen elektrische Atmosphäre, abgenutzte Schleifer und die feuchte Hand am verkabelten Plastikgriff, mit dem man die Porsches, Ferraris und BMWs über den Kurs gejagt hat. Avus und Hockenheim heißen die Klassiker der Produktserie, die seit Anfang der 60er existiert und sich immer wieder verändert hat. Der Thrill am Speed ist unverändert.
Ein bis unten durchgedrückter Daumen bedeutet knallhartes Vollgas – maximal bis zur nächsten Kurve. Und die zeitlose Frage lautet: Wer ist der Schnellste? Das gender-korrekte Femininum kann man an dieser Stelle eher vernachlässigen. In der offiziellen Renn-Community, dem Carrera-Club, sind rund 80 Prozent männlich.
Was natürlich nicht bedeutet, dass die Damen in irgendeiner Hinsicht langsamer oder vorsichtiger wären. Beispielhaft erwähnt sei hier die Zwingenberger CDU-Stadtverbandsvorsitzende und Landtagsabgeordnete Birgit Heitland. Von damenhafter Zurückhaltung oder gar Rücksicht kann keine Rede sein, wenn man sie einmal an der Strecke erlebt hat.
Vierspurig und 28,8 Meter lang
Frau Heitland gehörte jetzt zu den ersten externen Testfahrer*innen an der neuen Carrera-Anlage des Zwingenberger Motor-Sport-Clubs. Richtig gehört: Nach intensiver Planung und ziemlich leidenschaftlicher Umsetzung hat der MSC jetzt auch eine Miniatur-Rennbahn im Fundus. Und was für eine! Ein vierspurig ausgebauter Rundkurs über 28,8 Metern Länge, auf dem bis zu sechs Fahrzeuge gleichzeitig Gas geben können. Auch Spurwechsel zum Überholen sind möglich.
Gesteuert werden können Autos in den Maßstäben 1:32 und 1:24. Auch eine Tribüne, eine Boxengasse, eine Zeitnahme und die Option für eine digitale Tankanzeige wurden verbaut. Anspruchsvolle Rennpiloten richten eine Pit Lane ein. Damit kann man die Tank-Funktion aktivieren und den Verbrauch überprüfen.
April 2019. Die Welt ist noch in Ordnung. Lewis Hamilton gewinnt den Großen Preis von China, und in Zwingenberg steht ein Umbruch ins Haus. Der MSC-Vorstand stellt sich neu auf. Die Idee: Neben dem Jugendkart-Slalom soll eine weitere Disziplin ins Vereinsleben integriert werden. Und weil bereits einige Mitglieder vom Carrera-Virus infiziert sind, ließ die Antwort nicht lange auf sich warten. Aber wohin mit der Anlage? Wer kümmert sich? Und wie soll der Aufbau aussehen?
„Wir wollten keine halben Sachen machen“, betont der zweite Vorsitzende Sven Künz. Ein Rennbähnchen stand nicht zur Diskussion. Gemeinsam mit seinem Vorstandskollegen Michael Schneider und dem rennbegeisterten Sympathisanten Oliver Nickel wurde das Projekt in Angriff genommen.
Das Trio hat viel Zeit, Schweiß und Initiative in die Carrera-Bahn investiert. Nach rund einjähriger Planungs- und Aufbauzeit wollte man gerade loslegen, als die Pandemie mitten in die erste Testphase platzte. Der Rennzirkus musste ruhen.
Schnupperkurse und Rennen
Die vorgesehenen Schnupperkurse, Events und Rennen wurden auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Jetzt, im Sommer 2021, will man das Angebot langsam und sicher in die Öffentlichkeit kommunizieren.
Angedacht sind feste Termine zum Durchstarten. Vielleicht ein oder zwei Mal im Monat. Auch Wettkämpfe mit lokalen Vereinen wären denkbar, so Michael Schneider. Statt Christbaumschießen mal eben den kabellosen Temporegler drücken. „Das ist halt kein PC-Game“, so Schneider über die magische Verbindung von Controller und Slotcar (wörtlich: „Schlitzfahrzeug“), die so viele Menschen begeistert.
Weil alles echt ist. Man hört das Rennen, riecht die Technik und schätzt die haptische Komponente der Bauteile. Wer zu flott unterwegs ist, fliegt raus. Auch physisch. Trotz digitaler Steuerung: Der Spaß ist vollkommen analog. Schwerkräfte wirken in Echtzeit, es gibt automobile Rempeleien in der Engstelle und Kollisionen beim Spurwechsel, der durch einen kleinen Klick am entsprechenden Knopf bei der nächsten Funktionsschiene durchgeführt wird.
Von Tuning sehen die MSC’ler ab. Lediglich die speziellen Ortmannreifen werden genutzt. Ein Sonderzubehör für Insider. Diese Schlappen sind nicht aus Gummi wie die Originalreifen, sondern aus Polyurethan und haben auf der Schiene wesentlich mehr Grip als die Standard-Pneus.
Die Jungs vom MSC besetzen alle Nischen im Spektrum des Carrera-Kosmos: Der eine bevorzugt DTM-Strecken, der andere den GT-Modus, der nächste die Retro-Schiene.
Chassis’ werden in Original-Designs lackiert. Eine kleine Rarität ist der Porsche 911 im Pink Pig Design. Ein Traum in Schweinchenrosa mit Spoiler und anatomisch genauer Sauenmarkierung. Das Kotelett ist die Fahrertür, der Schinken sitzt genau über dem Hinterrad-Schweller.
Streckenrekord: 5,2 Sekunden
Es gibt Bandenwerbung und Helikopter an der Strecke. Falls mal ein Pilot ganz schnell zum Notarzt muss. Der Streckenrekord liegt momentan bei 5,2 Sekunden. Auf eigene Gefahr. „Wir haben genug Autos, die wir zur Verfügung stellen können“, so Sven Künz. Aber die Besucher können auch ihre eigenen Flitzer mitbringen. Ein Kräftemessen mit den Gastgebern ist nicht ausgeschlossen.
Derzeit steht die Anlage unterm Dach der entrümpelten Vereinslagerhalle. Dafür wurde eigens eine steile Treppe angebracht. Trotz beengter Verhältnisse lässt es sich hier gut durchstarten – und in Erinnerungen schwelgen. Das Schlitzpistenflitzen in Zwingenberg könnte zu einem neuen Renner werden. Der MSC hofft auf viele Fans.
1963 kam die erste elektrische Carrera-Bahn auf den Markt
Anfang der 80er war das lenkbare System bei den Carrera-Fans hip. Durchsetzen konnte es sich trotz technischer Qualität nicht. Schon damals nervten die Freaks mit dem authentischen Dreileitersystem der Universal-Baureihe, dem Pionier der Modellrennbahnen schlechthin.
Mit der Spur brachte Hermann Neuhierl 1963 die erste elektrisch betriebene Carrera-Bahn auf den Markt.
Die nackten Rennwagen mit den offenen Achsen und den aus dem Cockpit herausguckenden Helmen waren Kult – und sind es noch immer in gewissen Kreisen. In den 70er und 80er Jahren wurde die Carrera-Rennbahn weiterentwickelt, viele aktuelle und historische Automodelle kamen hinzu.
Carrera! Schon der Name war ein Versprechen. Das Wort ist spanisch und bedeutet „Rennen“. Es ging um Temporausch, Nervenkitzel, Kräftemessen.
Boxenluder kannte man damals noch nicht, sie hätten auch keinen wirklich interessiert. Viel wichtiger war das Odeur von verbranntem Gummi und des heißlaufenden Kontrollgeräts.
Der erste Kurs war eine Acht. Mehr war ohne Zubehör nicht drin. Später gab es mehr Autos, Steilkurven und Loopings, Brücken und Schikanen. Aber auch Hindernisfahrzeuge, Rundenzähler und Ersatztrafos für die durchgeschmorten Stromklumpen aus der Originalpackung.
Mitte der 80er wurde es ruhig in Plastik-Monte-Carlo. Mit der digitalen Variante ging es langsam wieder bergauf. tr
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