Zwingenberg. Ein üppiges Buffet breitet sich vor dem Diefenbachsaal des „Bunten Löwen“ aus. Liebevoll haben die kurdischen Frauen aus Zwingenberg die Köstlichkeiten ihrer Heimat zubereitet. Es gibt Cig Köfte, eine kräftig gewürzte und geknetete Speise, die meist aus Bulgur besteht. Dazu kommen Börek-Sticks, ein Teiggericht mit Käsefüllung, sowie Bulgursalat, gefüllte Weinblätter und natürlich: Baklava, eine zuckersüße Blätterteigspeise.
Dabei passt dieses prachtvolle Bild gar nicht zu dem, was folgt. Denn nun spricht der Journalist und Türkei-Experte Friedrich Roeingh über das Leben der Männer und Frauen aus den kurdischen Gebieten in der Türkei. Kurzum: über Unterdrückung.
Etwa 100 Besucher sind an diesem Donnerstagabend gekommen, Einheimische wie Zugezogene, und haben damit die Erwartung des „Arbeitskreis Asyl und Integration“, der den Vortrag mit der Stadt organisiert hat, übertroffen. Ziel des Ganzen ist, die Fluchtursachen von Kurden zu verstehen und eine Möglichkeit der Begegnung zwischen hier lebenden Kurden und Einheimischen zu schaffen, wie Christiane Eichhorn vom Arbeitskreis sagt.
Schätzungen zufolge gibt es 25 bis 30 Millionen Kurden weltweit. Darunter sind etwa 15 Millionen in der Türkei, womit die Kurden fast 20 Prozent der dortigen Bevölkerung stellen. Für Deutschland reichen die Schätzungen von 800.000 bis 1,5 Millionen, wie Experte Roeingh erläutert. Der ehemalige Chefredakteur der Allgemeinen Zeitung in Mainz war als Berichterstatter mehrfach in der Türkei, unter anderem nach dem Erdbeben im Februar 2023. Der nationale Katastrophenschutz habe „differenziert geholfen“, sagt er. Kurdisch geprägte Gebiete hätten weniger Unterstützung erfahren als die von Präsident Erdogans AKP regierten Städte. Den Aleviten, einer weiteren Minderheit, sei praktisch gar nicht geholfen worden.
Dann wirft Roeingh einen Blick zurück ins erste Viertel des 20. Jahrhunderts. „Man kann die Kurdenfrage nicht ohne historische Einordnung verstehen“, sagt er. Im Mai 1916 schlossen Frankreich und Großbritannien das Sykes-Picot-Abkommen, benannt nach dem britischen Diplomaten Mark Sykes und dem französischen Diplomaten Georges Picot. Darin teilten die beiden Länder das Osmanische Reich, das während des Ersten Weltkrieges mit dem Deutschen Reich verbündet war, für den Fall eines Sieges unter sich auf. Daraus sollten später Syrien, Libanon, Irak und Jordanien hervorgehen.
Nach dem Kriegsende wurde im Vertrag von Sevres im Jahr 1920 den Kurden eine Abstimmung über ein eigenes Staatsgebiet in Aussicht gestellt. Gleichwohl war der Vertrag von den Europäern oktroyiert, der sogenannte Diktatfrieden führte zu einer Protestbewegung auf Seiten der Türken, angeführt von Mustafa Kemal. Nach erbittertem Kampf gelang ihm drei Jahre später die Gründung der Türkei.
Das alles mündete in einem „versteigerten Nationalismus“ und damit dem „ersten Geburtsfehler“ der Türkei, wie Experte Roeingh äußert. Dazu kam, dass Kemal nach seinem Sieg die Ratifizierung des Vertrags von Sevres ablehnte, womit den Kurden die Möglichkeit auf einen eigenen Staat genommen wurde. „Das ist der Punkt, an dem sich die Kurden als das vom Westen betrogene Volk sehen“, sagt Roeingh.
Die Türkei immer mehr in Richtung Autokratie geführt
Der „zweite Geburtsfehler“ ist nach Ansicht des Journalisten der Laizismus. Obwohl die Trennung von Staat und Kirche aus westlicher Sicht modern anmute, habe sie den Aufstieg Erdogans mit seiner „islamistischen Politik“ erst ermöglicht. Schon damals sei es „absurd“ gewesen zu glauben, in einem religiösen Land ein Kopftuchverbot in staatlichen Einrichtungen durchsetzen zu können. Das hat Erdogan mittlerweile aufgehoben.
Zudem hat er das Land im Jahr 2017 durch eine Verfassungsänderung von einem parlamentarischen System, in dem die Regierung vom Parlament abhängt, zu einem präsidentiellen System umgewandelt. In diesem wird der Präsident vom Volk direkt gewählt, ist aber nicht mehr so abhängig von parlamentarischer Kontrolle. Seitdem hat Erdogan die Türkei immer mehr in Richtung Autokratie geführt, eine Alleinherrschaft. Das gelang ihm auch, weil er die Armee nach dem Putschversuch im Jahr 2016 unter seine Kontrolle gebracht habe, die in der Türkei immer ein „Staat im Staate“ gewesen sei, erläutert Roeingh.
Wenngleich der Experte den historischen Kontext ausführlich darlegte, verlor er sich nicht in der Vergangenheit. Stattdessen berichtete er über seine jüngsten Reisen. So erfahren die Gäste, dass er im März 2023 das kurdische Neujahrsfest Newroz in der Millionenstadt Diyarbakir im Südosten der Türkei besucht hat. Zudem traf er damals Serra Bucak, die lange in Deutschland gelebt hat, seit der Kommunalwahl im März 2024 Bürgermeisterin von Diyarbakir ist und der pro-kurdischen Partei DEM angehört.
Frauen sei beim Wählen „die Hand geführt worden“
Überhaupt ist politisch in den vergangenen Monaten viel passiert in der Türkei. Bei der besagten Kommunalwahl war Journalist Roeingh auf Einladung der DEM-Partei als Wahlbeobachter in kurdischen Gebieten im Einsatz, die er „Kurdistan“ nennt. Eine Erkenntnis: Wählen sei in der Türkei ein „heiliger Gral“. Die Wahlbeteiligung bei der Kommunalwahl lag bei fast 80 Prozent – und das sei ein vergleichsweise geringer Wert. Allerdings überwogen die negativen Aspekte während Roeinghs Aufenthaltes.
Nach seiner Beobachtung wurden Soldaten in Städte zum Wählen gefahren, in denen der Sieg von Erdogans AKP gefährdet war. Zudem berichtete er von bewaffneten Sicherheitskräften vor den Wahllokalen und davon, dass Familien gemeinsam in Wahlkabinen gegangen seien. Frauen sei beim Wählen „die Hand geführt worden“.
Trotzdem ging die Opposition aus der Kommunalwahl als Sieger hervor. Die CHP, die Partei des Staatsgründers Kemal, wurde stärkste Kraft, was auch auf die schwache wirtschaftliche Entwicklung zurückzuführen ist. Nach Angaben von Roeingh gewann die Opposition in den Städten, die zusammen 75 Prozent des „Bruttosozialproduktes“ erwirtschaften. Die Ergebnisse in der Türkei zeigen zudem, dass ein Regierungswechsel trotz autokratischer Strukturen möglich ist – zumindest vorerst.
Trotz all der politischen Unsicherheit hat es in den vergangenen Monaten einen Prozess der Annäherung gegeben zwischen den Kurden und der türkischen Regierung Erdogans. Die pro-kurdische PKK, die in der Türkei auf der Terrorliste steht, hat im Mai ihren bewaffneten Kampf für beendet erklärt, nachdem ihr im Gefängnis sitzender Gründer Abdullah Öcalan dazu aufgerufen hatte. Zuvor hatte es schon Annäherungen zwischen kurdischen Vertretern und der Regierung gegeben – auf Vorstoß Erdogans ultranationalistischen Koalitionspartners MHP.
Der jüngste Dialog in der Türkei bedeutet jedoch auch, dass sich die Chancen auf einen positiven Asylbescheid für Kurden in Deutschland verringern, wie Roeingh sagt. Bürgermeister Sebastian Clever (CDU) weist darauf hin, dass die Lage weiter angespannt sei. So seien unter anderem türkische Bürgermeister verhaftet worden, die sich im Netzwerk für lebenswerte Städte „Cittaslow“ engagiert hätten, dem auch Zwingenberg angehört. Zudem sagt der Rathauschef, dass die Stadt weiter auf der Suche nach sogenannten Integrationslotsen sei, die Neuankömmlinge zum Beispiel bei Behördengängen unterstützen.
Der Kampf gegen Unterdrückung in der Türkei geht unterdessen weiter. Trotz der Annäherungen zwischen Kurden und Regierung müsse klar sein, dass in der nationalistisch geprägten Türkei unter Präsident Erdogan immer die Absetzung eines Bürgermeisters erfolgen könne, sagt Roeingh. Kleine Fortschritte können also schnell zerstört werden. Dazu kommt, dass mehr Freiheit für die Kurden mit einer Demokratisierung einherginge, die unter Erdogan nicht wahrscheinlich erscheint. Für die Kurden in Deutschland und der Türkei, so die Erkenntnis des Abends, bleiben die nächsten Monate daher wohl: ein Leben voller Ungewissheit.
URL dieses Artikels:
https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/zwingenberg_artikel,-zwingenberg-tuerkei-experte-vortrag-_arid,2338084.html
Links in diesem Artikel:
[1] https://www.bergstraesser-anzeiger.de/orte/zwingenberg.html
