Zwingenberg. 80 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs schwindet das Wissen um den Holocaust immer mehr. Das belegt eine Untersuchung der „Jewish Claims Conference“, an der jeweils 1000 Menschen zwischen 18 und 29 Jahren aus acht Ländern teilgenommen haben. 40 Prozent der befragten Deutschen gaben an, nicht gewusst zu haben, dass in der Zeit des Nationalsozialismus fast sechs Millionen europäischer Juden ermordet wurden. Gleichzeitig gaben 94 Prozent der Interviewten an, dass es wichtig sei, über den Holocaust aufzuklären.
Große Bedeutung der lokalen Erinnerungsarbeit
Vor diesem Hintergrund kommt der lokalen Erinnerungsarbeit, wie sie der Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge seit mehr als einem Vierteljahrhundert leistet, eine immer größere Bedeutung zu. Zumal die Zahl der Zeitzeugen immer kleiner wird. Die Resonanz auf das jüngste Angebot – einen Stadtgang „auf den Spuren der NS-Zeit“ – stieß erfreulicherweise auf gute Resonanz: Rund 35 Interessierte machten sich am Samstagnachmittag mit Fritz Kilthau, 23 Jahre lang Vorsitzender des AK Synagoge und Autor etlicher Publikationen, und dem zweiten Vorsitzenden Sebastian Rhein auf den Weg durch das älteste Bergstraßenstädtchen.
Sozusagen als Leitgedanke über dem Stadtgang stand der Titel des vor 25 Jahren erschienenen Buches „Mitten unter uns“, in dem Fritz Kilthau die Geschehnisse in „Zwingenberg an der Bergstraße von 1933 bis 1945“ dokumentiert hat. „Was in den großen Städten geschehen ist, das geschah auch hier, also mitten unter uns“, ließ Kilthau auch am Samstag gleich vom Start weg keinen Zweifel daran aufkommen: „Ausgrenzung und Verfolgung von Juden, Zeugen Jehovas oder Mitgliedern der Arbeiterparteien KPD oder SPD gab es auch in Zwingenberg.“
Stolpersteine als Wegweiser
Nach einer Einführung in die Lokal- und Regionalgeschichte der Juden vom Mittelalter bis in die Zeit des Nationalsozialismus begann der Stadtgang an der ehemaligen Synagoge in der Wiesenstraße. Von dort aus führte er an den Häusern der jüdischen Familie Wachenheimer (Pfarrhausgasse), des KPD-Vorsitzenden und ersten Nachkriegsbürgermeisters Ludwig Mütz (Untergasse), dem Alten Rathaus am Marktplatz, das der NSDAP-Ortsgruppe als Domizil diente, und den Häusern der jüdischen Familien Wolf (Marktplatz 12) und Schack (Obergasse 3) vorbei bis zur ersten Zwingenberger Synagoge (Am Kleinen Berg) und der Gedenktafel für die Opfer der NS-Zeit im Rathaushof.
Wegweiser waren die im Jahr 2012 auf Initiative des AK Synagoge von dem Künstler Gunter Demnig verlegten „Stolpersteine“, die für elf Zwingenberger Opfer des Nationalsozialismus vor ihren letzten – freiwillig gewählten – Wohnorten angebracht worden sind. So auch vor dem Wohnhaus der Familie Amanda und Saly Wolf, die mit ihren Kindern Arnold, Fritz und Ilse am Marktplatz 12 lebten. Die Bilder, die das Duo Kilthau/Rhein den Stadtgängern präsentierte und die am Tag nach den Novemberpogromen 1938 entstanden sind, belegen: Auch Zwingenberger Bürger schauten zu, wie die Nazis das Haus verwüsteten und die Bewohner drangsalierten. All das geschah eben „mitten unter uns“.
16 Zwingenberger Juden wurden Opfer des nationalsozialistischen Regimes
Insgesamt besteht der Stadtgang, der wie das Kilthau‘sche Buch den Titel „Mitten unter uns“ trägt und die „Spuren von Verfolgung und Widerstand“ aufnimmt, aus 15 Stationen, von denen mit Blick auf die am Samstag zur Verfügung stehende Zeit etwa die Hälfte besucht wurden. Fritz Kilthau betont in einer entsprechenden Broschüre, die auf der Webseite des AK Synagoge (www.arbeitskreis-zwingenberger-synagoge.de) kostenlos zum Download (Rubrik „Unser Angebot“, Unterrubrik „Publikationen) angeboten wird:
„Die Darstellung der Geschichte Zwingenbergs von 1933 bis 1945 ist kein Selbstzweck. Aus der Geschichte zu lernen für unser jetziges Handeln - ich glaube, dass diese Aussage für uns alle ganz besonders auf die Geschehnisse während des nationalsozialistischen Regimes zutrifft. Ich denke und hoffe, dass die konkrete Darstellung der Geschichte des Nationalsozialismus vor Ort in Zwingenberg am ehesten dazu führt, dass sich Bürger dieser Stadt - und hier besonders die Jüngeren unter uns - mit der Geschichte von 1933 bis 1945 auseinandersetzen.“
Nach bisherigen Erkenntnissen sind 16 Juden, die in Zwingenberg wohnten oder aus Zwingenberg stammten, Opfer des nationalsozialistischen Regimes geworden. Als weiteres Todesopfer ist Hans Gärtner, ein Zeuge Jehovas, bekannt. Wer mehr wissen möchte, dem sei das Buch „Mitten unter uns - Zwingenberg an der Bergstraße von 1933 bis 1945“ empfohlen.
Fritz Kilthau schildert auf 256 Seiten und illustriert mit 131 Abbildungen die Geschehnisse anhand ausführlichen Quellenmaterials und beschreibt detailliert die schmerzlichen Lebensgeschichten der Opfer. Das Buch ist als Sonderband 21 der Geschichtsblätter für den Kreis Bergstraße von der Arbeitsgemeinschaft der Geschichts- und Heimatvereine im Kreis Bergstraße im Verlag Laurissa Lorsch herausgegeben worden (ISBN 3-922781-85-3) und auch in der Zwingenberger Stadtbücherei vorhanden.
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