Zwingenberg. Die kleine Anna singt „Creep“ von Radiohead. Für ihre Schwester ist sie ebenfalls ein „creep“: ein seltsamer Mensch, etwas unheimlich und angsteinflößend. Im Grunde ist sie ein ganz normales Mädchen, sensibel und empfindsam, vielleicht ein bisschen einsam. Aber sie spürt, dass sie etwas Besonderes ist. Denn sie kann mit Geisteswesen kommunizieren, die nur sie sehen und hören kann. Auf diese Weise öffnet sich ihr die wechselvolle Geschichte eines alten Hauses, in das sie Anfang der 1990er Jahre mit ihrer Familie einzieht.
Es ist das Gebäude ihrer Tante, irgendwo in der Zwingenberger Altstadt. Ein Haus mit langer Biografie und vielen Geheimnissen. Das Dach leckt, die Balken knarzen, der Schimmel wütet. Aber mit banaler Kosmetik ist es nicht getan: Anna (Rebecca Schadewald) hört Menschen weinen, lauscht ihren Erzählungen und erlebt immer wieder Szenen aus längst vergangenen Zeiten. Es sind Geister aus 750 Jahren Zwingenberger Stadtgeschichte. Gute und böse. Und manches dieser ätherischen Wesen hat noch eine alte Rechnung offen.
„Spuk in der Obergasse“ ist ein besonderer Beitrag zum Jubiläumsjahr der Stadt Zwingenberg. Eine Collage aus bekannten und unbekannten Geschichte der lokalen Historie, geschrieben und inszeniert von Danilo Fioriti.
Der Regisseur, Theater- und Medienwissenschaftler hat in Zwingenberg schon etliche Stücke auf die Bühne gebracht – diesmal handelt es sich – zumindest grob thematisch – um eine Art Auftragswerk, das einen Bezug zur Vergangenheit der Stadt aufweisen sollte. Daher wurde die jährliche Eigenproduktion mit dem Jubiläum gekoppelt. Eine Herausforderung. Das Stück sollte einen historischen Charakter haben, aber kein Historienstück sein.
Es sollte unterhalten, ohne die grausamen Kapitel der Vergangenheit auszublenden. „Zwingenbergs Geschichte ist ziemlich blutig. Die Stadt wurde vier Mal komplett zerstört“, so der freie Regisseur, der unter anderem schon für das Rhein-Neckar-Theater Mannheim und das Theater Alte Werkstatt in Frankenthal gearbeitet hat. Er hat die Sommerspiele Überwald mit gegründet, inszeniert seit vielen Jahren für das Festival „Trommer Sommer“ und seit kurzem auch für das Chawwerusch Theater in Herxheim.
Historische Fakten werden mit Familiengeschichte verwoben
Für „Spuk in der Obergasse“ hat er Episoden aus der faktischen Historie mit einer spannenden Familiengeschichte verwoben. Der älteste Hinweis auf diesen „locum getwinc“ findet sich in einer Urkunde aus dem Jahr 1012, in der König Heinrich II. dem Kloster Lorsch die Jagdrechte übereignet hatte. Der Ortsname weist darauf hin, dass Reisende an der Bergstraße zur Durchquerung der Stadttore gezwungen waren, da westlich der Siedlung nur Sumpf und Auwald war. „Die Mauern dieses Hauses erinnern sich noch daran, dass Zwingenberg einmal eine Stadt am Sumpf war“, heißt es in einem Bühnendialog. Als die Familie einzieht, werden sie von einem Nachbarn begrüßt. „Ein altes Haus ist wie ein großes Rätsel, das man nicht so leicht entwirren kann“, so der etwas skeptisch wirkende Mann.
Danilo Fioritis Vorgabe war, das Publikum zunächst einmal nicht zu verwirren. Die historischen Momente sollten klar und plastisch in die Story und ihre Figuren eingebunden sein. Den Rahmen für die Bühnenhandlung bildet ein Interview mit der erwachsenen Anna, die sich an die Zeit damals erinnert. Die frühen 90er Jahre hat der Regisseur gewählt, weil dies in Hollywood die Zeit der Gruselkomödien war: nach Beetlejuice (1988) kamen die Gremlins und die Addams Family sowie allerlei Hexen- und Gespenstergeschichten ins Kino. Und weil es momentan in der Mode und in der Popkultur ein Revival der 90er gibt – auch Beetlejuice wurde neu verfilmt – hat sich der Spielleiter für diesen zeitlichen Rahmen entschieden. Auch die Musik des Stücks stammt aus dieser Zeit. „Creep“ wurde 1992 veröffentlicht.
27 Schauspieler auf der Bühne
Das Ensemble ist so groß wie selten. 27 Darstellerinnen und Darsteller gehören zum Bühnenpersonal. Darunter bekannte Gesichter wie Carolin Banasek-Richter, Jürgen Koralewski, Gerry Fuchs und Rolf Cassells. Auch Fioriti und Mobile-Leiter Leo Ohrem spielen mit. Die Musicaldarstellerin und Logopädin Lena Seidl hat mit den Akteuren rund ein Jahr lang an Aussprache und Gesang gefeilt.
„Die Arbeit gestaltete sich überaus komplex“, so der Regisseur. Als Autor musste er den geschichtlichen Aspekt mit einer guten Story, einem großen Ensemble, der Musik und einer stimmigen Dramaturgie in Einklang bringen. Die erste Fassung des Stücks lag im Mai vor, doch erst seit fünf Wochen proben die Spieler die finale Variante. Das Treffen am Sonntag lief sehr konzentriert und klar getaktet ab, hatte alles und jeden voll im Blick. Kleine Eingriffe betrafen Darsteller („Bitte nicht hinten am Fenster vorübergehen!“) und Requisiten („Der Eimer muss liegen!“). Die Kostüme der Geister orientieren sich an ihrer jeweiligen Zeit, der Look der anderen zitiert Details aus den jungen 90er Jahren, als Teenager noch mit zerrissenen Jeans und Walkman stumm getanzt haben.
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