Zwingenberg. Das Biotechnologieunternehmen Brain kündigt an, den Umsatz in den nächsten vier bis fünf Jahren verdoppeln zu wollen. Als Grundlage dienen die Zahlen aus dem Geschäftsjahr 2018/19. Gleichzeitig strebt man eine Ebitda-Marge in Höhe von 15 Prozent plus/minus fünf Prozentpunkte an. Diese Kennzahl bezeichnet den operativen Gewinn, vor Zinsen, Steuern und Abschreibung.
Damit kommuniziert die Unternehmensspitze erneut eine Zeitspanne, bis wann mit Gewinnen zu rechnen sei. Bei der virtuellen Hauptversammlung der Gesellschaft sagte Finanzvorstand Lukas Linnig gestern, dass ein Überschreiten der Gewinnschwelle im laufenden Jahr zwar nicht mehr zu erwarten sei. Man gehe aber davon aus, dass es damit aber auch nicht bis zum Ende der definierten Zeitschiene dauern werde.
Das bedeutet: Ab 2022 könnte der Zwingenberger Biotech-Pionier an der Gewinnschwelle kratzen. Die gut 8000 Aktionäre wird es freuen, nachdem die schwarze Null immer wieder ein großes Thema bei der Anlegerversammlung gewesen war. Die Anteilseigner mussten sich am Mittwoch aufgrund der aktuellen Situation mit einer Online-Veranstaltung zufrieden geben – hatten aber im Vorfeld die Gelegenheit, ihre Fragen auf elektronischem Weg nach Offenbach zu schicken, wo der geschäftsführende Vorstand und der Aufsichtsratsvorsitzende per Live-Stream zugeschaltet waren.
Insgesamt erfreulich
Brain-Vorstandschef Adriaan Moelker übernahm im Februar 2020 Verantwortung und musste die Geschäfte von Beginn an im Corona-Modus agieren. Der Moelker bilanziert ein insgesamt erfreuliches Geschäftsjahr 2019/2020, in dem trotz eines schwierigen wirtschaftlichen Umfelds ein organisches Umsatzwachstum und ein leicht verbessertes bereinigtes Ebitda erzielt werden konnten.
Der Umsatz rangierte mit 38,2 Millionen Euro leicht unter dem des Vorjahrs (38,6 Millionen Euro). Lukas Linnig verweist hier auf die finanziellen Auswirkungen durch den Verkauf des defizitären Kosmetikunternehmens Monteil im Sommer 2019. Ohne Berücksichtigung dieses Verkaufs verzeichne die Brain ein organisches Wachstum in Höhe von 3,4 Prozent. Das Ebitda verbesserte sich auf minus 2 (zuvor minus 2,2) Millionen Euro aufgrund einer insgesamt verbesserten Materialaufwandsquote. Unter dem Strich steht ein Verlust von neun Millionen Euro. Im Geschäftsjahr davor waren es 11,1 Millionen Euro. Auch der Wechsel im Vorstand habe leichte negative Effekte verursacht.
Für Adriaan Moelker steht das Unternehmen jetzt am Beginn einer neuen Ära. Man sei mitten in der Neuausrichtung der gesamten Organisationsstruktur und habe die komplette Geschäftsentwicklung auf konstantes Wachstum ausgerichtet. Das Produktportfolio werde klar in sieben konkrete Programme aufgeteilt, was einen schnelleren Marktzugang ermöglichen und den Aktionären mehr Transparenz bieten soll, so der 56-jährige Niederländer, der vor einem Jahr für den Brain-Mitbegründer Jürgen Eck in die Chefetage nachgerückt war. Beispielhaft nennt Moelker den Eintritt ins Geschäft mit Zuckerersatzstoffen sowie die Übernahme des profitablen US-Unternehmens Biosun Biochemicals mit Sitz in Florida.
Der Deal von Anfang des Jahres soll den Wachstumskurs von Brain im Segment Bio-Industrial weiter vorantreiben und die Vertriebskapazitäten in Nordamerika verbessern. Zudem stehe man kurz davor, sich mit weiteren „Durchbruch-Technologien“ am Markt zu positionieren. Details wollte Moelker am Mittwoch noch nicht nennen. „Aus Wettbewerbsgründen.“ Mit Fusionen und Übernahmen will Brain seine Präsenz auf internationaler Ebene weiter ausbauen. Gemessen an den Umsatzerlösen ist die USA nach Europa der größte und ein laut Moelker zunehmend wichtiger Markt.
Vorwärts gehe es auch mit dem Präparat Aurase mit einem Enzym zur biologischen Wundversorgung. Moelker meldet erfreuliche Fortschritte, mit der Testreihe soll im laufenden Jahr begonnen werden. Durch die Pandemie seit man zirka neun Monate hinter dem Zeitplan. Die Markteinführung wird in vier Jahren angestrebt. Ansonsten habe Corona die Gruppe kaum nennenswert getroffen.
Ausnahme ist die Tochter WeissBioTech mit einer Produktionsanlage in Büttelborn bei Darmstadt. Dort werden Enzyme, Hefen und Prozesshilfsmittel zur Herstellung unter anderem von Wein, Bier und Bioethanol entwickelt. In diesem Genre sei der Lockdown ebenso spürbar wie bei Forschungs-Kooperationen und bei der Generierung potenzieller neuer Geschäftsbereiche. Die Absage von Fachmessen und die begrenzte Reisetätigkeit habe das Unternehmen bei der Gewinnung von Kunden und Aufträgen ausgebremst.
Um Brain fit für die Zukunft zu machen, setzt Moelker neben wertsteigernden Akquisitionen und technologischen Innovationen vor allem auf Humankapital: „Unsere Mitarbeiter sind die wertvollste Ressource.“ Unter der Leitung der Brain-Personalchefin Ute Dechert entstehe derzeit ein Programm zur Talententwicklung. Durch eine straffere Konzernführung, eine forcierte Nutzung von Synergien und ein engmaschiges Controlling aller Tochtergesellschaften will die Vorstandsspitze ab sofort stärker und systematischer agieren – auch, was unbequeme Entscheidungen angeht: „Was keinen Sinn ergibt, wird beendet“, so Vorstandsvorsitzende, der eine klare Kante und konsequente thematische Fokussierungen ankündigt und dabei – mehr als bisher – auch auf öffentliche Fördermittel zurückgreifen will. „Unsere Innovationen sind gesellschaftlich relevant und damit förderungswürdig.“ Zumal das Unternehmen so eigene Reserven schonen würde. Mit liquiden Mitteln in Höhe von 18,9 Millionen Euro verfüge man aktuell über eine starke Kapitalbasis für den erwarteten zukünftigen Wachstumskurs, heißt es. Die Umsatzentwicklung ist nach stetigem Aufwärtstrend seit 2012 im vergangenen Jahr zwar nur leicht gesunken, doch Finanzvorstand Linnig möchte sich damit nicht zufriedengeben: „Wir wollen wieder stärker organisch wachsen.“ Im Segment BioScience, in dem das Forschungs- und Entwicklungsgeschäft mit Industriepartnern gebündelt ist, sei man bereits auf einem guten Weg (plus 8,5 Prozent).
Die zweite zentrale Säule BioIndustrial (Entwicklung und Vermarktung eigener Produkte über direkte Marktzugänge und Lizenzpartnerschaften) schwächelt momentan etwas. Dennoch blickt Lukas Linnig optimistisch nach vorn. Sein Vertrag läuft bis September 2023. Adriaan Moelker hat zunächst bis Januar 2024 signiert. Bis dahin könnte die Gewinnschwelle erreicht worden sein. „Wir stecken mitten in einer Investitionsphase.“
Luft nach oben
Das soll sich auszahlen – auch auf dem Aktienmarkt, den Brain durch neue Investorengruppen weiter internationalisieren will. Zuletzt war der Hamburger Lloyd Fonds neu hinzugekommen, der aktuell 4,3 Prozent der Wertpapiere hält. Größter Einzelaktionär bleibt mit 36 Prozent der Anteile die MP Beteiligungs-GmbH, die seit dem Börsenstart dabei ist. Gründer und Management von Brain halten 7,9 Prozent der Aktien. Das Interesse der Klein- und Privataktionäre ist nach wie vor groß. Über 45 Prozent der Papiere befinden sich nicht im festen Besitz (Free Float). Hier sei noch Luft nach oben, so Moelker, der betont: „Mein Ziel sind zufriedene Aktionäre.“
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