Zwingenberg. Für Vorstand Lukas Linnig hat die Technologie das Zeug dazu, die weitere Biografie der Brain Biotech AG maßgeblich zu verändern: „Das kann zu einem Game Changer werden“, betont der Finanzvorstand, der seit Anfang Oktober beim Zwingenberger Biotech-Unternehmen für das Ressort Finanzen zuständig ist. In einem neu entwickelten Werkzeug zur Genom-Editierung sieht Linnig ein erhebliches wirtschaftliches Potenzial, einen massiven Schub für eigene Projekte und die Grundlage für spannende Geschäftsmodelle der kommenden Jahre auf einem hoch dynamischen Wachstumsmarkt.
„Wir sind sehr zufrieden mit dem bisher Erreichten“, so Linnig. Die erste Entwicklungsphase habe man erfolgreich abgeschlossen. Das System werde nun bereits in verschiedenen Projekten eingesetzt. Bei Bakterien, Hefen und Pilzen zeigen sich bemerkenswerte Ergebnisse.
Nahrungspflanzen robuster machen und Krankheiten heilen
Weltweit forschen Wissenschaftler derzeit an der Optimierung von Pflanzen mithilfe von CRISPR. Die genetisch veränderten Varianten sollen ertragreicher, nährstoffreicher und resistenter gegen Klimaextreme oder Schädlinge sein. Auch für die Ernährung der Weltbevölkerung könnte die Technologie hilfreich sein.
Es ließen sich robuste Nahrungspflanzen mit früheren Erträgen entwickeln, die ideal sind für eine urbane Landwirtschaft sind, die weniger Fläche, Dünger und Wasser benötigt. Genetisch manipulierte Pflanzen könnten für den vertikalen Anbau in Ballungsräumen angepasst werden.
Auch Mediziner setzen große Hoffnungen auf das Verfahren. Dadurch könnten genetisch bedingte Erkrankungen geheilt und Erbkrankheiten vielleicht sogar ganz ausgerottet werden. Bei Krebserkrankungen könnte man dem Patienten gesunde Immunzellen entnehmen und gentechnisch so manipulieren, dass sie den körpereigenen Reparaturmechanismus anstoßen. Nach Rückgabe der Zellen erkennt das Molekül, das sich auf der Oberfläche der Immunzellen befindet, die Tumorzellen des Erkrankten und zerstört sie, so die These der Biotechnologen.. tr
Bei Pflanzen und Säugetierzellen seien die Forscher auf den letzten Meilen, was Funktionalität und Anwendbarkeit angeht, berichtet der Molekularbiologe Michael Krohn, der seit 2019 den gesamten Bereich Forschung und Entwicklung leitet. Für Krohn und Linnig hat das Projekt derzeit allerhöchste Priorität.
Das Schlüsselwort lautet CRISPR
Um was geht es? Vereinfacht gesagt: um eine spezielle Gen-Schere, durch die man gezielt und präzise Veränderungen am Erbgut vornehmen kann. Zwar ist die Ursprungstechnologie bereits etabliert, doch ist es den Brain-Wissenschaftlern in den vergangenen rund fünf Jahren gelungen, dem Prinzip ein weiteres Werkzeug hinzuzufügen. Dessen Potenzial wird derzeit weiter erforscht. Großer Vorteil: Weil man durch das eigene System von internationalen Patenten und millionenschweren Lizenzen unabhängig ist, bietet sich dem Unternehmen eine interne Handlungsfreiheit, die viel Spielraum für künftige Vorhaben ermöglicht.
Das Schlüsselwort hinter dem Instrumentarium lautet CRISPR: Was klingt wie ein leckerer Knusperkeks ist die Abkürzung für eine biochemische Methode, die auf Englisch „Clustered Regularly Interspaced Short Palindromic Repeats“ heißt. Mit CRISPR lässt sich DNA gezielt schneiden und verändern. Gene können eingefügt, entfernt oder ausgeschaltet werden. Das funktioniert bei einzelnen Basen und ganzen Genabschnitten auch an mehreren Stellen gleichzeitig.
Eine Entdeckung, die als eine der größten des 21. Jahrhunderts gilt. Wissenschaftler sprechen weltweit bereits von der „CRISP-Revolution“. Michael Krohn erklärt: Bakterien nutzen einen bestimmten Mechanismus, um sich gegen Viren zu verteidigen. Beim ersten Kontakt mit einem Virus nehmen sie dessen DNA-Sequenz auf und bauen sie bei sich selbst ein. „Im Grunde handelt es sich um ein evolutionär entwickeltes Immunsystem von Mikroorganismen“, so der Experte. Anhand zuvor gespeicherter DNA-Fragmenten werden Feinde erkannt und abgewehrt.
Auf der Basis dieses Mechanismus` hatten Wissenschaftler 2012 die Idee, daraus ein molekularbiologisches Instrument zu entwickeln, das mit bis dato unerreichter Zuverlässigkeit, Geschwindigkeit und Treffsicherheit Zellen im Genom manipulieren konnte. Ein Universalwerkzeug zum gezielten Umschreiben von DNA. Die bislang gängigen Varianten sind das künstlich erzeugte Guide-RNA und verschiedene Cas-Schneideproteine.
Überraschenderweise hat das nicht nur bei Bakterien geklappt, sondern bei allen lebenden Zellen: jenen von Tieren und Pflanzen, aber auch von Menschen und Säugetieren, so Krohn über dieses ziemlich besondere Phänomen. „Dass dies auch in höheren Lebensformen funktioniert, war so keineswegs zu erwarten.“ Zwar gab es auch zuvor auch schon Genscheren, doch diese waren viel aufwändiger zu programmieren, teurer und weitaus unsicherer in der Anwendung. Das neue Verfahren gilt als Durchbruch in der Molekularbiologie. Mit enormen Perspektiven bei der Anwendung in der Tier- und Pflanzenzüchtung, in der Biotechnologie, und vor allem in der Medizin.
Im Oktober 2020 wurden Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna für ihre bahnbrechenden Erkenntnisse mit dem Nobelpreis für Chemie ausgezeichnet. Das von ihnen genutzte Protein aus der Familie Cas heißt Cas9. Doch fast zeitgleich mit den Damen hat auch ein US-amerikanisches Team die Patente für ein weiteres CRISPR-System mit einem anderen Schneideprotein erhalten. Es begann ein bis heute andauernder Streit, bei dem es nicht nur um die Hoheit über die Methode, sondern um sehr viel Geld geht. Für akademische Forschungsprojekte fallen in der Regel zwar keine Lizenzgebühren an. Für kommerzielle Zwecke schaut es aber anders aus. Und genau die hat Brain im Visier.
Das eigene Werkzeug auf der Grundlage von Nukleasen (Enzymgruppen) soll es den Biotech-Pionieren aus Zwingenberg ermöglichen, jenseits von heiß umkämpften Schutzrechten frei zu agieren und somit die Entwicklung von hoch effizienten Produzentenstämmen und maßgeschneiderten Kundenlösungen weiter zu beschleunigen. „Die Nutzung des Tools für das Kerngeschäft der Brain war unser vorrangiges Ziel“, sagt Lukas Linnig. Das mache das Unternehmen unabhängig von Patentstreitigkeiten und wettbewerbsfähig mit den großen Pharmakonzernen. „We CRISPR for you!“ lautet bereits ein interner Slogan.
Die Zwingenberger betonen, dass eine erfolgreiche Ökonomisierung dieser Technologie die künftige Entwicklung des Unternehmens sehr positiv beeinflussen könne. Aktuell ist man noch auf der Suche nach dem besten Geschäftsmodell. Bis zur Marktreife will man Anwendungsbereiche und Investitionsbedarf auswerten sowie potenzielle Partnerschaften ins Auge fassen. Auch die Aktionäre der börsennotierten Brain Biotech AG sollen vom wirtschaftlichen Effekt des neuen Systems profitieren, so der Finanzvorstand, der insbesondere das wachstumsstarke Bioindustrial-Segment im Visier hat. In dieser Sparte konzentriert sich das Unternehmen auf das Spezialitätengeschäft in der Produktion und Veredelung von Enzymen, Mikroorganismen und bioaktiven Naturstoffen. Durch optimierte Genom-Editierungsverfahren könne man die Produktion steigern und gleichzeitig die Kosten reduzieren. „Ein Vorteil am Markt“, ist Lukas Linnig überzeugt.
Die neue Technologie ist nicht mehr aufzuhalten
Bei biotechnologischen Innovationen tut sich Europa traditionell eher schwer damit, die Möglichkeiten zu nutzen, heißt es aus dem Zwingenberger Unternehmen Brain Biotech AG. Bei der Genschere CRISPR-Cas ist das nicht anders: Die Technologie bietet einerseits Lösungen für gesellschaftliche Probleme, stellt aber auch gesellschaftliche Normen und Werte infrage.
Der Brain-Biologe Michael Krohn plädiert dafür, eine neue Technologie nicht zuerst nach ihren vermeintlich negativen Potenzialen zu bewerten, sondern nach den positiven Perspektiven, die sie bieten kann. Ethische Fragen müssten dabei selbstverständlich ebenso diskutiert werden wie die Chancen für Individuum und Gesellschaft. Krohn bezeichnet die CRISPR-Methode als fahrenden Zug, der nicht mehr aufzuhalten sei. Und er verweist auf die Vorteile des Systems: Beim Genom- Editing werde der Eingriff in die DNA präzise nur an einer einzigen vorbestimmten Stelle im Genom durchgeführt – nämlich exakt dort, wo man etwas bewirken möchte. Im Gegensatz zu Bestrahlung oder Chemikalien, die ebenfalls Mutationen auslösen, laufe der Prozess hier kontrolliert und zielgenau statt spontan und damit eher zufällig ab.
Wer CRISPR daher mit der traditionellen Gentechnik vergleiche, stelle keinen Kontext her und argumentiere letztlich unfair, so Michael Krohn. Wenn genom-editierte Pflanzen und Produkte als gentechnisch verändert gekennzeichnet werden müssen, dann sei das faktisch wissenschaftlich nicht ganz korrekt und übertrage letztlich ein etabliertes Negativ-Image auf neue Verfahren mit einem enormen Zukunftspotenzial in vielen Anwendungsbereichen. tr
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