Zwingenberg. Den Deutschen wird bekanntermaßen nachgesagt, dass sie immer dann, wenn mindestens sieben Personen mit denselben Interessen zusammen sind, reflexhaft und ohne schuldhaftes Zögern einen Verein gründen. So schnell ging es beim Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge nicht: Der am 1. Juni 1999 gegründete Verein feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen, seine Gründung war jedoch kein Schnellschuss und ist schon gleich gar nicht aus einer Laune heraus geschehen. Mehr als ein Jahr lang – seit Januar 1998 – hatte ein überschaubarer Kreis von Akteuren immer wieder darüber nachgedacht, wie das ambitionierte Ziel, die ehemalige Synagoge an der Wiesenstraße 5 für die Öffentlichkeit zu erhalten und im Sinne eines „Nie wieder!“ zu nutzen, weiterverfolgt und unterstützt werden könnte.
Migrationsmuseum war geplant
Interessierte Bürgerinnen und Bürger um die Zwingenberger Historikerin Claudia Becker und den Bensheimer Architekten Heinz Frassine, gefördert von Bürgermeister Kurt Knapp, hatten mit Blick auf das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte die Idee entwickelt, „hier einen Ort der Toleranz und der Erinnerung einzurichten“. Zum einen wollten die Initiatoren damit „an jüdisches Leben in unserer Region erinnern“, zum anderen sollte „eine Begegnungsstätte entstehen, in der Menschen unterschiedlicher Völker, Kulturen, Religionen und Generationen zu Veranstaltungen zusammenkommen können“, wie es später in der Vereinssatzung formuliert wurde.
Auf den Spuren der Vorfahren
Die Kontakte, die im Zuge der Recherche- und Autorentätigkeit des Vorsitzenden Fritz Kilthau entstanden sind, haben dafür gesorgt, dass etliche Nachfahren jüdischer Bürgerinnen und Bürger wie Rachel und Michael Ben-Eliezer (Israel/Enkel von Amanda und Saly Wolf), Dr. Jeffrey und Michael Shaman (USA/Urenkel von Johanna und Zodik Wachenheimer), Prof. Dr. Joan Haahr (USA /Enkelin von Martha und Moritz Schack) und Norbert Gérard Schack (Schweiz/ Enkel von Martha und Moritz Schack) und Professor Claude Abraham (Enkel von Clothilde und Heinrich Wachenheimer) Zwingenberg besucht haben. mik
Den Akteuren war allerdings klar, dass es – so ehrenwert die Absichten und so wichtig die Ziele auch waren und sind – ganz praktische Hürden zu nehmen waren, um aus der ehemaligen Synagoge ein südhessisches Migrationsmuseum und eine Begegnungs- und Veranstaltungsstätte zu machen. Allen voran: Die seit 1988 unter Denkmalschutz stehende Immobilie befindet sich (bis heute) in Privatbesitz und müsste zunächst erworben werden, um sie überhaupt nutzen zu können.
Bei einem Treffen im März 1999 entstand dann die Idee, einen Verein zu gründen, und nach einem Aufruf im „Bergsträßer Anzeiger“ wurde dieser Plan am 1. Juni 1999 in die Tat umgesetzt: 21 Frauen und Männer gründeten den Verein Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge, der am 5. Juli desselben Jahres ins Vereinsregister eingetragen wurde. Claudia Becker übernahm den Vorsitz, den sie zwei Jahre später an Hanns Werner, ebenfalls ein Gründungsmitglied, abgab. Seit 2002 wird der Verein von Gründungsmitglied Fritz Kilthau geleitet. Neben knapp 50 Personen wurden die Stadt Zwingenberg, die Kommune Alsbach-Hähnlein, der Kreis Bergstraße sowie die evangelischen Kirchengemeinden Zwingenberg und Alsbach und die katholische Pfarrgemeinde Zwingenberg Mitglied im Verein.
Vorträge, Konzerte, Publikationen, Schulprojekte
Der Erwerb und die Nutzung der ehemaligen Synagoge sind – zumindest als langfristige Perspektiven – in all den Jahren nicht in Vergessenheit geraten. Doch ist eine Realisierung wegen fehlender finanzieller Mittel nicht in Sicht: Der Verein konnte und kann die notwendigen Gelder nicht aufbringen und auch auf Stadt-, Kreis- und Landesebene fand sich keine hinreichende finanzielle Unterstützung. Der Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge konzentrierte sich daher auf weitere wichtige Ziele und setzte sich mit einer Vielzahl von Vorträgen und Konzerten, Ausstellungen, Schulprojekten sowie Publikationen für ein „Nie wieder!“ ein.
Der Gründungsvorstand des Arbeitskreises
Am 1. Juni 1999 gründete sich der Verein „Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge“ mit dem Vorstand (sitzend von li.) Nicolas Durak (Kassenprüfer), Ulrike Scherf (Beisitzerin), Claudia Becker (Vorsitzende), Hanns Werner (stellvertretender Vorsitzender), Bürgermeister Kurt Knapp (Versammlungs- und Wahlleiter) sowie (stehend von li.) Sylvia Schneider (Kassenprüferin), Ilse Eichhorn-Götz, Irmgard Wagner, Fritz Kilthau, Heinz Frassine, Dorothee Reiniger (alle Beisitzer) und Reinhold Dinges (Kassenverwalter). Auf dem Bild fehlen Anita Fischer (Schriftführerin) und Michael Ränker (Beisitzer). / mik
Den inhaltlichen Grundstein legte – und legt – ganz maßgeblich die ehrenamtliche Recherche- und Autorentätigkeit des langjährigen Vereinsvorsitzenden Fritz Kilthau; er ist der Verfasser des Buches „Mitten unter uns – Zwingenberg von 1933 bis 1945“, dem Standardwerk zur Verfolgung der Zwingenberger Juden in der NS-Zeit. In weiteren Veröffentlichungen ist Kilthau den Lebensgeschichten vieler jüdischer Familien an der Bergstraße nachgegangen und hat zu Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten und zum Kriegsende recherchiert. Kilthau, der im vergangenen Jahr mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet wurde, ist zusammen mit dem AK Synagoge Herausgeber von elf Publikationen, zu denen er neun Vorträge entwickelt hat.
Gedenktafel am Rathaus erinnert an die Opfer der NS-Verfolgung
Um die Erinnerung an die frühere jüdische Gemeinde aufrechtzuerhalten, sich gegen rechtsextreme Gruppierungen der Gegenwart zu stellen, auf Ursachen und Auswirkungen des Antisemitismus hinzuweisen oder Vorurteile gegenüber Minderheiten und Menschen anderer Nationalitäten abzubauen, ist der Arbeitskreis Zwingenberger Synagoge über seine Veranstaltungen hinausgehend unermüdlich aktiv: Auf Initiative des Vereins wurden elf Stolpersteine zur Erinnerung an die ermordeten jüdischen Bürgerinnen und Bürger verlegt – zuletzt eine Stolperschwelle vor der ehemaligen Synagoge in der Wiesenstraße 5. Außerdem wurden die Namen der Zwingenberger Opfer auf einer Gedenktafel am Rathaus aufgeführt.
Gegen Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus, Rassismus
Der Arbeitskreis verfasste zudem im Jahr 2005 die „Zwingenberger Erklärung“ gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus, die in ähnlicher Form von einigen Städten und Gemeinden im Kreis Bergstraße übernommen wurde.
Ebenso in diesem Zusammenhang zu nennen sind: die Erarbeitung der Ausstellung „Migration in Südhessen“ mit den Regionen Bergstraße und Odenwald als Schwerpunkten, das Verfassen des Theaterstücks „Mitten unter uns – Juden in Zwingenberg und an der Bergstraße“ sowie Gespräche mit lokalen Zeitzeugen der Nazi-Herrschaft in der Region. Und in Kooperation mit den beiden Kirchengemeinden lädt der Verein alljährlich am 27. Januar, dem Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, zu einer Erinnerungsveranstaltung ein.
Verein benötigt „Verjüngungskur“
Obgleich der AK Synagoge mit seinen nunmehr 25 Jahren noch ein vergleichsweise „junger“ Verein ist, braucht er eine „Verjüngungskur“. Fritz Kilthau wurde bei der Jahreshauptversammlung im vergangenen Jahr einmal mehr in seinem Amt bestätigt, kündigte aber an, dass er bei der nächsten Wahl 2025 nicht mehr kandidieren wird. Gemeinsam mit Ulrike Jaspers, der stellvertretenden Vorsitzenden, ist Kilthau auf der Suche nach weiteren „Aktivposten“ für den Vorstand, um ein unverzichtbares Standbein lokaler und regionaler Erinnerungskultur, die in dieser Zeit offensichtlich nötiger denn je ist, zu erhalten.
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