Lorsch. Der Versuch, einen Bericht über „Mehr Chaos, mehr Liebe“ zu schreiben, ist im Grunde zum Scheitern verurteilt. Unmöglich, die Sprachkunst eines Friedhelm Kändler nacherzählend in eigene Worte zu fassen. Unmöglich, einen treffenden Eindruck von der lebendigen Rezitationsweise eines Marcus Jeroch zu erzeugen. So viel jedoch: Am Sonntagabend erlebten die Zuschauer im nicht ganz gefüllten Sapperlot bei „Mehr Chaos, mehr Liebe“ mit Texten von Kändler einen außergewöhnlich lustigen, beeindruckenden, erfüllenden Abend.
Mit gespitzten Ohren verfolgte das Publikum die von Marcus Jeroch ungeheuer fesselnd vorgetragene Sprachkunst und ging nach viel Applaus und mehreren Zugaben mit geschärftem Sprachgefühl nach Hause.
Sehr, sehr lustig war es, doch bei Weitem keine Comedy. Wo diese nach Pointen sucht, erzeugt Kändlers Wortwelt mit Hilfe von Jeroch Klang, Chaos und Staunen. Man lacht über die Sprache selbst und über deren ästhetische Erkundung. Texte wie „Die Schnecke“, in vielen Fortsetzungen, münden mal im reinen Unsinn, mal unversehens in tief philosophischer Reflexion über Wirklichkeit und Schein.
Vortragsakrobatik wie bei dem Text, aus dem erst das D, dann das W und schließlich noch das T verschwinden, ergänzt Jeroch mit Ballakrobatik – die nicht immer gelingt. Doch das dokumentiert umso stärker Ehrgeiz und Ernsthaftigkeit seiner Präsentation.
Quirlig und schlaksig tanzt und turnt er über die Bühne. Er nutzt die körperliche Ausdruckskraft, um Wortspiele, Pausen und Betonungen zu unterstreichen. Jede Bewegung wirkt organisch mit den Texten verwoben: Jeroch springt zwischen absurder Komik und poetischer Sprachkunst hin und her, ohne dass es je chaotisch wirkt. Und man sollte sich nicht täuschen: Bei aller Gewalt der Worte ist es auch das schauspielerische, komödiantische Talent Jerochs, das für Eingängigkeit und Leichtigkeit sorgt und doch der Erkenntnis Raum lässt: Unsere Sprache ist zerbrechlich und zugleich tiefgründiger als uns in der täglichen Routine bewusst ist.
Dadaistische Wortspiele
Bei Kändler/Jeroch wird sie zum Klangkunststück und im Handumdrehen geht es weniger um den Inhalt einer Geschichte, als um die Erwartung der Verwandlung der Wörter und die Dominanz des Gesprochenen über das Geschriebene – was unterscheidet denn eigentlich „wird“ von „wirrt“ und „das Willkommen“ von „er will kommen“. Warum war etwas „gestern“ und es ist nicht die Rede vom funkelnden „Ge-Stern“?
Marcus Jeroch ist Kändler seit vielen Jahren verbunden, nicht zuletzt durch seinen eigens gegründeten Jeroch-Verlag. Der Kabarettist und Autor Friedhelm Kändler ist vor allem für seine dadaistisch inspirierten Wortspiele und experimentellen Texte bekannt. Er selbst bezeichnet seine literarische Stilrichtung als „WoWo“ – als augenzwinkernde Frage zur Antwort: „DaDa“. Kändler ist auch selbst regelmäßig auf Kleinkunstbühnen, Lesungen und Festivals präsent.
Der Abend mit „Mehr Chaos, mehr Liebe“ im Sapperlot wurde durch Zuschüsse der Aktion „Hör-mal im Denkmal“ ermöglicht. Das hessenweite Kulturfestival verbindet seit 1993 jedes Jahr im September den Denkmalschutz mit zeitgenössischer Kultur. Anlass ist der bundesweite „Tag des offenen Denkmals“, der immer am zweiten Sonntag im September begangen wird.
Denkmalgeschützte historische Bauwerke wie die Hofreite aus dem 18. Jahrhundert, in der das Sapperlot in Lorsch seit 1998 zuhause ist, werden mit kulturellen Veranstaltungen bespielt.
Veranstaltet wird das Festival von der Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen in Zusammenarbeit mit örtlichen Partnern. Ziel ist es, die Aufmerksamkeit für das kulturelle Erbe zu stärken, es zugleich durch Live-Erlebnisse neu erlebbar zu machen – und flächendeckend kulturelle Erlebnisse zu ermöglichen.
Mehrfach ausgezeichneter Künstler und Moderator
Der mehrfach ausgezeichnete und als langjähriger Moderator im Frankfurter Tigerpalast bekannte Marcus Jeroch war nicht zum ersten Mal im Theater Sapperlot – erst im August war er hier im Rahmen des Kultursalons auf der Bühne. Vor einigen Jahren war Jeroch außerdem einer der Finalisten zum Kleinkunstpreis „Lorscher Abt“.
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