Sapperlot - Lilo Wanders spricht übers Alter – charmant und schmerzlich direkt / Langer Applaus im ausverkauften Lorscher Theater

So spät wie möglich jung sterben

Von 
Thomas Tritsch
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Lilo Wanders begeisterte mit ihrem Programm „Endlich 60 – gaga, geil & gierig“ und einer selbstironischen und klugen Sicht aufs Alter. © Zelinger

Lorsch. „Der Mensch braucht 13 lebenswichtige Mineralstoffe. Alle sind in Wein enthalten. Das kann doch kein Zufall sein!“ Lilo Wanders hat gelebt, geliebt und – vornehm ausgedrückt – auch gesoffen. In ihrem Programm „Endlich 60 – gaga, geil & gierig“ spricht sie ganz ungeschminkt über das Altern. Auf das gewohnte Make-up hat sie aber auch bei ihrem Auftritt in Lorsch nicht verzichtet.

Wodka mit Vitamin C

Im türkisfarbenen Federkleid, mit Kussmund und strohblonder Mähne macht die Kiez-Diva, die ihren 60. seit vier Jahren hinter sich gebracht hat, nach wie vor eine gute Figur. Den Rollator, mit dem sie auf die Bühne kommt, braucht sie noch lange nicht. Im früh ausverkauften Theater Sapperlot glitzert die Kunstfigur mit ihrem Paillettenkleid um die Wette. „Entweder verlierst du die Figur oder dein Gesicht.“ Es folgt der Schluck aus der – mit Wasser gefüllten – Wodkaflasche und der dazu passende Tipp: „Wussten Sie, dass man mit 37 Bier den Tagesbedarf an Vitamin C decken kann?“

Das Programm ist eine dezent nostalgische Retrospektive auf eine außergewöhnliche Karriere, garniert mit etlichen Kostproben aus der Frühzeit der Künstlerin, als sie noch als Sally Starmix die Kleinkunstszene unsicher gemacht hat. Aus der Nummer, als sie einmal die Aktrice, Sängerin und Tänzerin Evelyn Künneke interviewen musste, hat die Wanders eine herrliche Parodie gestrickt. Zusammen mit den ebenfalls in die Jahre gekommenen Diven Helen Vita und Brigitte Mira sang und tanzte „das Bein-Double von Marika Rökk“ („Die konnte nicht tanzen, wurde immer nur geworfen und gefangen“) bis zu ihrem Tod im Jahre 2001 in der ständig ausverkauften Berliner Revue „Drei Alte Schachteln“.

Für Lilo Wanders ist der Blick zurück ein ironisches Augenzwinkern ohne Reue, Pathos oder gar seifige Vergangenheits-Glorifizierung. „Kopf oder Zahl, immer volles Risiko“, beschreibt sie das Credo ihrer Biografie, die auch in der aktuellen Phase von klugem Witz und sympathischem St.-Pauli-Charme gekennzeichnet ist. Obwohl auch bei einem Gesamtkunstwerk die biologische Uhr nicht komplett gestoppt werden kann: „Wenn ich mir die Schuhe anziehe denke ich oft: Was ist vielleicht noch zu tun, wenn ich schon mal hier unten bin?“ Auch das Notizbuch liegt aufgeschlagen parat und hilft, wenn sie die Dramaturgie mal wieder kurz aus den Augen verliert. „Alt sein ist kacke!“

Bekannt wurde Lilo Wanders als Gründerin und Hauptfigur in der „Schmidt-Mitternachtsshow“ auf der Reeperbahn, bevor sie durch die TV-Sendung „Wa(h)re Liebe“ zur Sex-Beraterin der Nation wurde. Bis heute bricht sie frech mit Klischees darüber, wie Mann, Frau oder sonstwas dazwischen „zu sein hat“. Gesellschaftliche Konventionen werden unverkrampft auf den Kompost geschmissen.

Wanders ist herzlich, und manchmal auch schmerzlich, nah am Leben. Das gefällt dem Publikum, zumal: Sex sells. Sie bevorzuge nur noch Eier von freilaufenden Hühnern, sagt sie. Die Beziehungskiste bleibt heute länger zu als früher. „Filme schauen und saufen kann ich auch alleine.“ Obwohl: Eigentlich brauche sie keinen Alkohol und keine Drogen mehr, um high zu werden: „In meinem Alter erreicht man den gleichen Effekt, wenn man schnell aufsteht.“

Lilo Wanders ist direkt, lasziv und auch mal frivol. Obszön wird sie nie. Mit einer nordischen Eleganz in der Sprache und einer stets gewahrten Distanz zu ihrem Publikum, an das sie sich bei aller Nähe nie hautnah heranschmeißt, bewahrt sich die Bühnenfigur ihre künstlerische Autarkie. Deshalb rutschen auch die ernsteren Momente des Abends niemals ins Lächerliche ab, wenn sie beispielsweise über alternde Eltern spricht („Die Nabelschnur ist ein Lasso“) oder selbstironisch die kosmetischen Herausforderungen der frühen Morgenstunden skizziert. „Ich dachte, Horst Tappert sei tot“, kommentiert sie den Blick in den Spiegel, die Augenpartie betreffend.

„Ich brauche diese Bretter, ich bin ganz, ganz geil auf dieses Leben“, gesteht die Verwandlungskünstlerin, die im feuerroten oder himmelblauen Kleid mit Rüschen auf die Bühne tritt und das Lorscher Publikum auch mit ihrer tiefdunklen, rauchen Stimme zu begeistern weiß. Sie wolle so spät wie möglich jung sterben, lautet das Motto ihres Lebens, das bei ihrem Bühnenprogramm in jeder Minute deutlich wird: würdig reifen, aber sich eine unverbissene Offenheit und Neugier bewahren.

Langer Applaus im Theater Sapperlot, in dem die Künstlerin gar nicht erst auf die „Zugabe“-Rufe wartet, sondern sogleich noch eine Nummer drauflegt. Bloß keine Zeit mit Ritualen verschwenden. Man wird ja nicht jünger.

Freier Autor

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