Lorsch. Im Alten Schulhaus, in unmittelbarer Nähe zur jüdischen Gedenkstätte in der Schulstraße, sind Museumsräume eingerichtet worden. Die Dokumentation, Träger ist der Lorscher Heimat- und Kulturverein, beschäftigt sich mit der Landjudenschaft in Lorsch, Südhessen und der östlichen Kurpfalz. Die Ausstellung konzentriert sich wesentlich auf eine Zeitspanne von 300 Jahren, beginnend im Dreißigjährigen Krieg 1645 und endend 1945 mit dem Holocaust, der auch das Ende der Landjudenschaft bedeutete. Auf die Bezeichnung Museum haben die Kuratoren verzichtet, Dokumentation verdeutlicht, dass auf den knapp 100 Quadratmetern vor allem viele Dokumente gezeigt werden.
Erinnerung an Verlorenes
Erinnerung an Verlorenes will die Dokumentation ermöglichen, die 40 Schautafeln mit Faksimiles und Fotos sowie in acht Vitrinen originale historische Objekte versammelt: einen silbernen Kiddusch-Becher zum Beispiel, Fragmente eines Lorscher Tora-Schildes, ein Kopialbuch von 1782, Seiten eines Siddur, eines Gebetbuches, das aus der 1938 in Brand gesteckten Synagoge stammt und Brandspuren trägt. Eine Karte zeigt die über 200 einstigen jüdischen Landgemeinden der Region im Umkreis von 50 Kilometern.
Landjuden gehörten nicht zur akademischen Wirtschaftselite, sie waren ein Teil der bäuerlichen Gesellschaft, ein selbstverständlicher Teil der deutschen Gesellschaft auch in der Region. Die Lorscher Dokumentation will auch vermitteln, „dass der Nationalsozialismus uns einen Teil der eigenen Identität raubte“. Kuratoren sind Staatssekretär a.D. Prof. Dr. Joachim-Felix Leonhard, der auch Vorsitzender des Kuratoriums des Vereins Kurpfalz ist, und Thilo Figaj, Vorsitzender des Heimat- und Kulturvereins, der sich seit Jahren um die Erforschung der jüdischen Geschichte der Region kümmert.
Die Ausstellung beschäftigt sich nicht allein mit der Shoa. Auf Texttafeln – mit goldfarbenen Hintergrund – werden auch „goldene Zeiten“ thematisiert, Zeiten, in denen das Zusammenleben von Christen und Juden im Ort gut funktionierte. Im Alten Lorscher Schulhaus selbst lernten christliche und jüdische Kinder gemeinsam jahrhundertelang schreiben, lesen und rechnen.
An Juden aus Lorsch, die im 19. Jahrhundert auswanderten und in den USA Karriere machten, wird in der Dokumentation ebenfalls erinnert. Neben Klavierbauer Julius Krakauer, der eines der führenden Unternehmen seiner Branche aufbaute, wird etwa Henry Morgenthau vorgestellt. Sein Vater hatte einst eine Zigarrenfabrik in Lorsch, unter den Nachfahren der Morgenthau-Dynastie befinden sich Diplomaten, ein Finanzminister und ein US-Bundesanwalt. In Manhattan war das „Lorsch-Building“ eines der ersten Hochhäuser.
Auf einer anderen Tafel kann man einstige Anzeigen jüdischer Kaufleute lesen. Die Auswahl zeigt, dass zahlreiche höchst unterschiedliche Unternehmen existierten. Es gibt zum Beispiel Annoncen, die Orangen anpreisen, für Filzhüte und für Spezereien wird geworben sowie für Anzugstoffe. Hermann Lorch brachte mit „Herlo“ die erste Lorscher Zigarettenmarke auf den Markt.
Der Gestapo Daten geliefert
Im Raum nebenan sind die Tafeln anthrazitfarben unterlegt. Hier wird an Stigmatisierung, Entrechtung und Beraubung erinnert. Eine Liste mit den Namen und den Adressen der aus Lorsch deportierten und während der NS-Herrschaft ermordeten Bürger findet sich dort. Sie lebten in der Bahnhof-, der Karl- oder Schulstraße. Nachzulesen ist in dem Raum unter anderem auch, dass Friedrich Wilhelm Euler, Enkel des Bensheimer Papierfabrikanten, für die Nazis gearbeitet hat. Der Genealoge, im Reichsinnenministerium und im Braunen Haus tätig, habe für Polizei und Gestapo zum Beispiel Daten über Mischehen und jüdische Taufen zusammengestellt.
Die Dokumentation will als außerschulischer Lernort ausdrücklich auch Schulklassen erreichen. Erklärt werden daher auch grundsätzliche Fragen zum Judentum und Begriffe wie die Kopfbedeckung Kippa oder ein Feiertag wie Yom Kippur. Aufgezeigt wird, wie es zu Ausgrenzung und Antisemitismus kam. Der Frankfurter Auschwitz-Prozess in den 1960er Jahren wird ebenso benannt wie der Anschlag auf die Synagoge in Halle 2019.
Eindrucksvoll ist die 3D-Rekonstruktion der Lorscher Synagoge, die einst in der Bahnhofstraße stand und 1938 durch Brandstiftung zerstört wurde. An ihrem Standort ist heute ein Geschäftshaus zu finden.
Die Dokumentation solle dazu beitragen, dass sich ein solcher Zivilisationsbruch nie wiederholt, so Leonhard. Verlässt man die Ausstellung fällt der Blick jedes Besuchers kurz vor dem Ausgang auf einen einzigen Satz aus dem Grundgesetz, der bewusst gut sichtbar zum Abschluss platziert ist: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Altes Schulhaus ist noch viel älter
Das Alte Schulhaus in Lorsch ist deutlich älter als bislang angenommen. Das haben wissenschaftliche Untersuchungen unter anderem des Dachstuhls und eines Deckenbalkens ergeben, die durch den Heimat- und Kulturverein im Rahmen der Einrichtung der neuen Räume in dem Gebäude angestoßen wurden. Nach den neuen dendrochronologischen Prüfungen des Eichenholzes ist das ehemalige und lange einzige Schulhaus, das heute als schmuckes Fachwerkhaus die Blicke auf sich zieht, 300 Jahre alt.
Die Datierung 1723 ordnet das Schulhaus in eine Bauphase mit dem denkmalgeschützten Alten Rathaus ein, das im Jahr 1715 errichtet wurde, und dem Neubau der in direkter Nachbarschaft befindlichen katholischen Kirche St. Nazarius, die in den Jahren 1726 bis 1729 entstanden ist. sch
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