Autorenlesung

Lesung in Bensheim: Denn gute Storys brauchen Adrenalin

Tomer Gardi stellte seinen neuen Roman vor

Von 
Gerlinde Schar
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Autor Tomer Gardi stellte im Paul-Schnitzer-Saal seinen jüngsten Roman „Eine runde Sache“ vor. © Lotz

Lorsch. „Geschichten müssen wild sein. Gute Geschichten brauchen Adrenalin.“ Und „Literatur beschäftigt sich mit Fantasie nicht mit Wahrheit“, behauptet der israelische Schriftsteller Tomer Gardi bei seiner Lesung im Paul-Schnitzer-Saal und sieht schelmisch in die überraschte Runde.

Und wer eines der Bücher des in Berlin lebenden Autors gelesen, oder wer ihn jetzt in Lorsch, wo er sein neustes Buch, „Eine runde Sache“ dabei hatte, gehört und persönlich erlebt hat, der weiß wovon Gardi spricht und was er meint. Dazu passt der Spruch des Ich-Erzählers aus seinem Roman: „Absurd ist besser als tot.“

Die Kunst des Fehlerhaften

Seit der Veröffentlichung seines zweiten Romans „Broken German“, den er bewusst in gebrochenem Deutsch verfasst hat, ist er genau für diese Kunst des Fehlerhaften ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Anderseits wird er für seinen Mut, für das Anderssein bewundert. Beim Ingeborg-Bachmann-Preis 2006 hat die Literaturkritikerin Cornelia Zetzsche die Sprache Gardis als „hinreißend und spielerisch kreativ“ bezeichnet, wie die Moderatorin der Lorscher Lesung, Angelika Mietzner, den Zuhörern berichtete.

Tomer Gardi soll in einem früheren Interview gesagt haben, dass er „seine Sprache von überall her genommen hat. Wenn man in Berlin ist, hört man so viele verschiedene Arten und Weisen zu reden. Jeder sollte auf Deutsch schreiben dürfen.“

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In Lorsch spricht der Autor von einem spielerischen Umgang mit deutscher Grammatik und Orthografie: Sprache als Rebellion gegen das Normale. Mietzner ging zu Beginn kurz auf die Biografie des unkonventionellen Schriftstellers, der wie kein anderer mit der deutschen Sprache spielt und keine Rücksicht auf Grammatik nimmt, ein. Gardi wurde 1974 im Kibbuz Dan in Galiläa geboren, zog mit zwölf Jahren mit seinen Eltern und Geschwistern für einige Jahre nach Wien, studierte später studierte Literatur- und Erziehungswissenschaft, promovierte und schreibt auf Deutsch und Hebräisch.

Auch den ersten Teil seines dritten Romans, „Eine runde Sache“, für den er 2022 mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet wurde, hat der moderne Märchenerzähler und literarische Outsider in einem faszinierenden, bildhaften Kunstdeutsch geschrieben, das vom Standard abweicht.

Hawaii-Hemd und Pferdeschwanz

„Eine runde Sache“, das sind tatsächlich zwei völlig unterschiedliche Geschichten. Die erste der beiden, die der israelische Autor aus der Ich-Perspektive erzählt und die ebenso so abstrus, surreal und irre wie komisch und mit ihren sprachlichen Neuerfindungen und Varianten geradezu herausfordernd ist, lässt den Zuhörern gewollt viel Platz für eigene Interpretationen. Und macht Riesenspaß.

Die zweite, etwas längere Geschichte hat Gardi auf Hebräisch geschrieben. Sie handelt von Raden Saleh, einem javanischen Prinzen, der im 19. Jahrhundert nach Europa reist, um dort als Maler zu arbeiten und nach Ausbruch der Revolution zurück in seine Heimat geschickt wird. Übersetzt hat die historische Begebenheit Anne Birkenhauer.

Bei seiner Lesung im Paul-Schnitzer-Saal konzentrierte sich der Literatur-Außenseiter, der sich mit buntem Hawaii-Hemd, Shorts und gebändigter Pferdeschwanz-Frisur schon äußerlich von den meisten seiner Kollegen unterscheidet, aus zeitlichen Gründen auf den ersten Fantasy-Roman in „Eine runde Geschichte“.

Allein die ersten Kapitel aus Absurdistan sind so überbordend grotesk, skurril, dabei wahnsinnig unterhaltsam, blödsinnig und märchenhaft verzwackt, dass es unmöglich ist sie im Zusammenhang wieder zu geben.

Er rutscht auf einer Gurke aus

Nur soviel: Im Foyer seines Hauses rutscht ein Theaterintendant auf einer Gurke aus, der Ich-Erzähler, der ein bewusst fehlerhaftes Deutsch spricht und eine Einladung zur Jagd als Einladung zur Yacht versteht, ein sprechender Deutscher Schäferhund namens Rex, der anstelle eines Maulkorbs eine Gummi-Vagina übergezogen bekommt und infolgedessen lediglich ü-Vokale von sich gibt, ein Erlkönig, der nur in Reimen spricht und der Versuch der merkwürdigen Gesellschaft sich vor der Sintflut auf die Arche Noah zu flüchten.

Die Auflösung der Geschichte über Sprache und Verstehen und den „Kern“ der beiden Geschichten im Roman, das Verbindende zwischen Autor, Schäferhund, Erlkönig und dem Prinzen aus Java blieb an diesem munteren Sommerabend im Dunkeln. Tomer Gardi, bis zum Ende der Autorenlesung bestens gelaunt, machte Schluss und Lust auf mehr.

Es sei Aufgabe der Leser zu entdecken, was die „runde Sache“ in beiden Erzählungen ist und Zusammenhänge zu finden. Zu seinem Schreibstil und seinen Schreibgewohnheiten sagte er abschließend, er fühle „ein inneres Bedürfnis, sich selbst zu bespaßen.“

Die Lesung war eingebettet in einen dreitägigen internationalen Semiotik-Workshop an der Welterbestätte Kloster Lorsch, der sich mit der Wissenschaft von Zeichenprozessen in der Kultur und der Natur beschäftigte.

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