Lorsch. Zahlreiche Termine werden wegen der Corona-Lage weiterhin abgesagt: Festveranstaltungen ebenso wie Jahreshauptversammlungen oder politische Treffen. Kulturfreunde bewiesen jetzt, dass auf gemeinsam zu erlebende Kulturveranstaltungen trotz der schwierigen Situation dennoch nicht verzichtet werden muss – zumindest, wenn man bereit ist, auch einmal Regen und Kälte zu trotzen. Erstmals wurde nämlich am Sonntag zu einem „Leseschwarm“-Nachmittag im Winter eingeladen – draußen auf der Klosterwiese.
Zur Überraschung vieler war der Lyrik-Nachmittag im Freien gut besucht. Mehr als 40 Zuhörer jedenfalls waren gespannt auf die ausgewählten Gedichte, die von der fünfköpfigen Gruppe „Leseschwarm 2.0“ vorgetragen wurden. Im mit Flatterband abgesperrten Areal unter den Linden saßen die Besucher unter Beachtung der 2G-Regel, mit Maskenpflicht und Abstand zueinander auf schlichten Holzbänken und ließen sich von hoffnungsfrohen Texten erwärmen.
Heizpilze gab es keine, Decken und heißer Apfel-Feigen-Tee reichten dem Publikum aus, um sich an Gedichten von Goethe, Schiller, Joachim Ringelnatz und Poeten-Kollegen zu erfreuen. Unter dem Titel „Aufbruch – Hinaus ins neue Jahr“ präsentierten Heidrun Scheyhing, Sibylle Römer, Margit Vogel, Karlheinz Mulzer und Nicole Margraf knapp 20 unterschiedlichste Werke.
Ein trüber Januar und eine nicht enden wollende Pandemie-Zeit brächten beinahe jeden dazu, „ein bisschen durchzuhängen“, stellte die Lorscher Kulturamtsleiterin Gabi Dewald bei der Begrüßung fest. Lyrik eigne sich, um dagegenzuhalten. Die „Leseschwarm“-Gruppe hatte darauf geachtet, dass Heiteres zum Jahresauftakt nicht zu kurz kommt.
Kerzenlicht an der Klostermauer
Als Stimmungsaufheller wirkte zudem die Beleuchtung der Klostermauer. Zum Weihnachtsmarkt war das Gemäuer mit künstlichem Licht angestrahlt worden, jetzt flackerten dort 40 Kerzen. Sie zogen auch die Aufmerksamkeit mancher Jogger und Spaziergänger auf sich. Der Wunsch nach einer beleuchteten Klostermauer wird in Lorsch immer wieder laut, Realität wird er nicht, fürchten manche. „Wir machen das jetzt mal“, sagte Dewald unter dem Applaus des Publikums.
Früher war auch nicht alles besser, machte Heidrun Scheyhing klar, als sie Kurt Tucholsky zitierte. „Immer fehlt dir irgendein Stück“ schreibt er in seinem Gedicht „Das Ideal“, in dem es heißt: „Hast du die Frau, dann fehl’n die Moneten“ und „bald fehlt uns der Wein, bald fehlt uns der Becher. / Etwas ist immer, tröste dich / jedes Glück hat einen kleinen Stich / Wir möchten so viel. Haben. Sein. Und gelten. / Dass einer alles hat: / das ist selten.
Karlheinz Mulzer prostete den Zuhörern zu mit Ludwig Thomas „Neujahr bei Pastors“, in dem der Punsch im Mittelpunkt steht. Sibylle Römer verbreitete mit Günter Kunert Zuversicht, der in „Anlauf zum Horizont“ schreibt „Ein Horizont zeigt sich immer. / Nimm einen Anlauf.“ Dass ein neues Jahr immer ausgerechnet im unwirtlichen Januar beginnen muss, wurde in einem Gedicht bedauert. Das Jahr ist neu, die Sorgen sind die alten, stellte ein anderer Autor fest.
„Kraft spüren“, „Hoffnung“, „Gute Wünsche zum Jahreswechsel“ lauteten die Titel weiterer Gedichte. Für alle gab es Applaus von den Zuhörern, die – als eiskalter Regen einsetzte – auch unter ihren aufgespannten Schirmen bis zum Ende ausharrten und klatschten.
Nicole Margraf versicherte, dass vom „Leseschwarm 2.0“ auch künftig zu hören sein werde: „Es fällt uns immer etwas ein.“ Gabi Dewald verteilte an alle Besucher zum Schluss selbstgebackene Glückskekse. „Kultur geht weiter“, versprach sie, trotz Corona. Spätestens am 21. März, zum Welttag der Poesie“, soll es in Lorsch wieder Lyrik geben.
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