Die Besten der Bergstraße - Für Johannes Chwalek, der über Johannes Heinstadt wissenschaftlich gearbeitet hat, ist der Fall des Lorscher Pfarrers auch ein Lehrstück darüber, was Diktatur bedeutet

„Ich lese, schreibe, bete und muss manchmal weinen“

Von 
Nina Schmelzing
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Lorsch. Johannes Heinrich Heinstadt begann im Juli 1904 seine Arbeit als katholischer Pfarrer in Lorsch. Zuvor war der knapp 32 Jahre alte Seelsorger in Herrnsheim, Dromersheim, Mainz und Fürfeld tätig gewesen. Den mit Abstand größten Teil seiner Arbeitszeit verbrachte Heinstadt, der im Jahr 1925 zum Dekan ernannt worden war und im Dezember 1933 vom Mainzer Bischof Ludwig Maria Hugo zum Geistlichen Rat, in Lorsch – bis ihn die Nationalsozialisten im Jahr 1934 nach seiner 30-jährigen Amtszeit von dort vertrieben.

Abgeholt und verhaftet worden

Die Anzeige wegen verletzender Äußerungen gegenüber Staatsorganen liest sich heute so abenteuerlich wie die Anklageschrift, nach der der Lorscher Pfarrer 1934 verhaftet und ins Staatspolizeigefängnis in Darmstadt gebracht wurde. Am 12. Januar 1934 war das.

Ein Auto aus Darmstadt, besetzt mit drei Mann, fuhr an jenem Freitag am Pfarrhof in Lorsch vor. Seine Festnahme sei notwendig geworden, erfuhr der Geistliche Rat, er habe einzusteigen – sofort, er sei verhaftet.

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Einen ausführlichen Einblick in die damaligen Geschehnisse ermöglicht Johannes Chwalek. Der Lehrer, der in einem Mainzer Gymnasium Deutsch, Geschichte und Philosophie unterrichtet, hat sich intensiv mit dem Lorscher Ehrenbürger beschäftigt. Sein Aufsatz über Heinstadts Konflikt mit dem NS-Regime ist in der Zeitschrift „Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde“ publiziert.

Chwalek, geboren 1959, hat zahlreiche Schreiben ausgewertet, die zwischen dem Bischöflichen Ordinariat und dem Hessischen Staatspolizeiamt gewechselt wurden. Auf den Fall Heinstadt stieß Chwalek – in den 1970er Jahren Schüler des Bensheimer Konvikts –, durch eine Anregung von Franz Josef Schäfer, Leiter der Geschichtswerkstatt in Bensheim.

Chwalek studierte Mitteilungen aus dem Lorscher Pfarramt, Dokumente der Geheimen Staatspolizei und Briefe von Heinstadts Kaplan Johannes Haenlein und er las die Bittgesuche, die der verstoßene Pfarrer aus dem Gefängnis unter anderem auch direkt an den Reichskanzler Hitler schrieb. Er sei sich „keines Verbrechens bewußt“, habe „nur seine Pflicht als Seelsorger getan“, verteidigt sich der Pfarrer, der nach seiner Verbannung starkes Heimweh nach Lorsch verspürte.

„Ich lese, schreibe, bete und muss auch manchmal weinen“, schreibt der Pfarrer über das trotz seines Freispruchs andauernde Sitzen in der einsamen Zelle an den Generalvikar. Die Verbannung des Pfarrers habe schon vor der Verhandlung festgestanden, sagt Chwalek. Für den Lehrer wurden seine Recherchen über Heinstadt selbst zu einer Art Lehrstück darüber, was Diktatur bedeutet.

Was aber hatte der Lorscher Pfarrer getan? Nichts, was die Haft rechtfertigen könnte. Der Unrechtsstaat akzeptierte einfach die althergebrachte Autorität katholischen Gemeindelebens nicht mehr, zeigt Chwalek auf. Heinstadts Überzeugungen brachten ihn schon früh in Konflikte mit den Männern der neuen Regierung. Anfangs habe der Geistliche nicht geahnt, nicht ahnen können, mit welch absolutem Machtanspruch und welcher Brutalität die Gegenseite handeln werde. Viele glaubten zuerst an die Möglichkeit eines einigermaßen friedlichen Nebeneinander mit dem NS.

Dass der Pfarrer im August 1929 die Beerdigung eines jungen Lorschers von der dazugehörigen Trauerfeier trennte, um uniformierten NS-Gruppen bei der religiösen Zeremonie keine politische Demonstration zu ermöglichen, war für viele NS-Anhänger ein unerhörter Vorgang. Auch dass sich unter den Hakenkreuz-Trägern Adolf Hitler befand, habe den Pfarrer aber nicht beirrt, so Chwalek. Allein die Trauerfeier am Lorscher Grab aber fand dann noch unter Teilnahme des Parteiführers statt.

Den offenen Konflikt mit dem Episkopat hätten die braunen Machthaber anfangs noch gescheut, Pfarrer aber wurden angegriffen und verfolgt. In Lorsch traf es Heinstadt. Nicht nur vermeintlich regimekritisches Verhalten wurde verfolgt, auch in weltanschaulichen Fragen habe der Totalitarismus des NS-Staates keine Konkurrenz dulden wollen. Chwalek schildert, wie der Wirkungskreis der Kirche verkleinert, katholische Jugendorganisationen zugunsten nationalsozialistischer aufgelöst und Äußerungen der Geistlichkeit zensiert werden sollen. Es geht unter anderem um die Weisung, den Hitlergruß statt „Gelobt sei Jesus Christus“ zu sagen.

Auch abfällige Äußerungen über Protestanten sollen Heinstadt angekreidet werden, unter anderem eine Bemerkung gegen den katholischen Ludwig Drayß, weil dieser eine Protestantin heiraten wollte. „Beschwerde- und Rechtfertigungsschreiben flogen damals hin und her“, heißt es bei Chwalek.

Dass der Pfarrer im November 1933 auf der Kanzel den Arbeitsdienst als „graue Pest“ bezeichnet haben soll, Mädchen, die sich beim Arbeitsdienst sehen lassen als „Dirnen“, führt zu Vernehmungen von Gottesdienstbesuchern. Diese bestätigen derartige Formulierungen zwar größtenteils nicht, die Diffamierungen der Nazis gegen den Pfarrer aber gehen weiter. Wegen „andauernder Sabotagearbeit“ sollte er sogar ins KZ Osthofen verbracht werden.

„Mit der Verfolgung des Lorscher Pfarrers rächte sich das Regime an dessen innerer Unabhängigkeit, mit der er sich der NS-Gleichschaltungspolitik jahrelang und bis in die letzte Zeit widersetzte“, schreibt Chwalek. Der Gymnasiallehrer ist sogar mit einem Geschichtsleistungskurs nach Lorsch gefahren und hat die katholische Kirche besucht. Der Fall Heinstadt ist zwar kein aufsehenerregender Fall, aber er vermittle beispielhaft, dass jemand, der sich in der Diktatur nicht willfährig zeigte, nicht mehr in Ruhe gelassen und dauerhaft bedrängt wurde. Die neuen Machthaber sahen den Pfarrer aus Lorsch als Gegner an und bemühten sich nach Kräften, ihn als „gehässigen Priester“ zu diffamieren.

Trotz des im Januar 1934 erfolgten Freispruchs von den Vorwürfen der Staatsanwaltschaft – rund 50 Lorscher sollen die Verhandlung verfolgt haben – wurde Heinstadt zunächst in Haft gehalten und ohne Begründung ins Gefängnis zurückgebracht. Das Aufenthaltsverbot für Lorsch wird erst im April 1936 aufgehoben. Religionsunterricht darf er nicht erteilen, wird im März 1937 noch einmal klargestellt.

Eine Gefährdung der endlich erfolgen Erlaubnis zur Rückkehr an seine langjährige Wirkungsstätte habe der über 60-Jährige dann nicht mehr riskieren wollen, der 1942 pensioniert wurde und seinen Ruhestand in Friedberg verbrachte, schreibt Chwalek. In der Zeit als Heinstadt 1946 zum Ehrenbürger ernannt wurde, hätten viele Bürger erkannt, dass die katholische Kirche zu den wenigen gesellschaftlichen Großgruppen gehört habe, die der Gleichschaltung widerstanden habe, heißt es in seinem Aufsatz.

Im April 1956 starb Heinstadt. Beigesetzt wurde er auf dem Lorscher Friedhof.

Redaktion

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