Lorsch. Wachsam sein – diese mahnende Aufforderung ist bei Veranstaltungen, die an die Pogromnacht am 9. November 1938 erinnern, immer zu hören. Derzeit ist sie so aktuell, so nötig, wie sich das die meisten Menschen nicht mehr hätten vorstellen können. Als sich Lorscher am Samstagabend versammelten, um der Opfer der nationalsozialistischen Gräueltaten zu gedenken, ging es längst nicht nur um die Zeit vor über 80 Jahren. Bürgermeister Christian Schönung berichtete in seiner Ansprache von gleich zwei erschütternden Vorfällen gegen Juden – allein aus der vorigen Woche.
„Antisemitismus war nie weg, er war zu keiner Zeit ausgerottet“, sagte Thilo Figaj, Vorsitzender des Lorscher Heimat- und Kulturvereins in seiner Rede. Dass Hass gegen jüdische Menschen mitten in Deutschland und Europa auf offener Straße zu sehen ist und sich Angriffe häufen, hätte aber wohl noch vor wenigen Jahren kaum jemand für möglich gehalten. Bürgermeister Schönung rief die Attacken in Amsterdam auf Fußballfans des israelischen Clubs Makkabi Tel Aviv in Erinnerung. Er sprach von „massiver Gewalt an verschiedensten Stellen der Stadt“, bei denen vor wenigen Tagen „propalästinensische Täter regelrecht Jagd auf Juden“ gemacht hätten. Es gab Verletzte.
Fußballer mit Messern verfolgt
Auch in Berlin wurden jüdische Spieler einer Jugendmannschaft gerade erst bespuckt, bedroht und mit Messern verfolgt, fügte Schönung an. In Zeiten, in denen „antisemitische Übergriffe, Hass und Diskriminierung zunehmen“, müsse die Gesellschaft „klar und unmissverständlich Position beziehen“, forderte er: „Antisemitismus hat in unserer Stadt, in unserem Land und in unserer Welt keinen Platz.“
In den vergangenen Jahren gab es Stimmen, die meinten, das regelmäßige Erinnern an den 9. November sei vielleicht nicht mehr unbedingt notwendig. Jeder wisse doch, was damals passiert war. Dass das Erinnern unverzichtbar ist, dürfte heute angesichts der neuen Gewalttaten gegen Juden allerdings niemand mehr bezweifeln. „In Schulen, Vereinen und an allen öffentlichen Orten“ sei aktiv daran zu arbeiten, „Wissen über die Geschichte und die schrecklichen Folgen von Diskriminierung und Hass weiterzugeben“, sagte Schönung.
„Erst verroht die Sprache, dann der Mensch“
„Was können wir lernen aus der Vergangenheit für das Bewerten der heutigen Situation und unser eigenes Eintreten gegen den neu aufflammenden Antisemitismus in unserem Land?“ Das fragte Thilo Figaj in seiner Rede.
Der Vorsitzende des Heimat- und Kulturvereins zeigte auf: „Erst verroht die Sprache, dann der Mensch.“ Figaj berichtete von „jüdischen Studenten an unseren Unis“, die sich Aufkleber anhefteten mit dem Text „Juden wissen, dass Worten Taten folgen“.
Figaj erinnerte an antisemitische Vorfälle aus Lorsch, die sich lange vor 1938 ereigneten. Der 21 Jahre alte Richard Oppenheimer etwa soll 1934 auf dem Lorscher Sportplatz eine Abteilung Arbeitsdienst Leistender verhöhnt haben. Die Truppe verfolgte ihn, der „Judenlümmel“ wurde verprügelt, kam über Nacht in Haft.
„Am darauffolgenden Tag hatten sich sämtliche Nazis im Ort, allen voran die SA, derartig aufgestachelt, dass sie in die Karlstraße marschierten, das Haus zu Hunderten belagerten und Richard Oppenheimer lynchen wollten.“ Der junge Mann wurde verhaftet, kam ins KZ Osthofen und ins Zuchthaus. 1935 floh er aus Deutschland.
„Das war eine antisemitische Gewalttat, die in Lorsch jeder mitbekommen hatte, und die auch in der Zeitung nachzulesen war“, berichtete Figaj. Oppenheimer war der Jüngste, aber nicht der einzige Lorscher Jude, der nach Osthofen verschleppt wurde.
Ein Indiz dafür, wie lebensfeindlich bereits der Antisemitismus der frühen Hitler-Jahre war, sei die Tatsache, dass die jungen, unverheirateten Menschen alle ins Ausland gingen. In der Heimat wurde ihnen jede berufliche Zukunft unmöglich gemacht. Zurück blieben die Familien mit Kindern und die Älteren. Aus dieser Gruppe gebe es kaum Zeugen, sie wurden deportiert und ermordet, so Figaj. Als nahezu gesamte Familie konnte nur die Familie Kahn aus der Nibelungenstraße fliehen und überleben. sch
Antisemitismus beginne oft leise, mit Worten, so der Bürgermeister. Das Ausmaß habe zuletzt erschreckend zugenommen. Das sei auch auf Zuwanderungen zurückzuführen aus Ländern, in denen Antisemitismus weit verbreitet ist. Im Bundestag sei deshalb der Antrag erfolgt, Gesetzeslücken auch im Straf- und Aufenthaltsrecht zu schließen, um jüdisches Leben zu schützen.
Jana Lenhart, Leiterin des Kulturbüros, erinnerte an die Pogromnacht 1938. Lorscher Bürger griffen zu Benzinkanistern, um die Synagoge in ihrer Nachbarschaft in der Bahnhofstraße niederzubrennen. Die Feuerwehr griff nicht ein. Schon in den Tagen des Pogroms, die den Beginn der Shoa mit sechs Millionen ermordeter Juden markierte, starben auch jüdische Lorscher, im Lager Buchenwald und auf dem Weg dorthin, berichtete Thilo Figaj.
Im Lorscher NSDAP-Schaukasten
Der Vorsitzende des Heimat- und Kulturvereins, zugleich ein sehr guter Kenner der jüdischen Geschichte der Region, zeigte auf, dass antisemitische Hetze und Ausgrenzungen bereits vor 1938 allgegenwärtig waren. „Offene Morddrohungen im Takt der SA-Stiefel“ seien auch durch geschlossene Fenster hörbar gewesen. Karikaturen jüdischer Menschen mit „üblen Fratzen“, die in den NS-Stürmerblättern erschienen, hingen auch im Schaukasten der NSDAP am Lorscher Zollhaus. Dort ist heute die Bücherei.
Antisemitismus sei zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht auf Deutschland beschränkt, sondern in Europa verbreitet gewesen. In Paris habe es sogar eine antisemitische Buchhandlung mit Verlag gegeben, so Figaj. Viele Juden in Deutschland glaubten aber anfangs noch, die Anfeindungen in ihrer Heimat würden sie irgendwie aushalten und überstehen können. Das erwies sich für viele als tödlicher Irrtum.
Der Lorscher Abraham Abraham, geboren 1854, kandidierte 1920 auf einem Listenplatz der DVP gemeinsam mit Heinrich Jost, der nur fünf Jahre später die NSDAP im Ort gründen sollte, berichtete Thilo Figaj. 1939, nachdem die Nazis Abrahams Geschäft und sein Haus zerstört hatten, wurde er nach Dachau verschleppt. Als hochbetagter Mann, als ihm endlich die Flucht gelungen war, schrieb er an Freunde „unvorhergesehen“ und „plötzlich“ sei seine Abreise an ihn herangetreten.
Zur Lorscher Gedenkveranstaltung gehörte in diesem Jahr ein „stiller Spaziergang. Von der Gedenkstätte in der Schulstraße ging es zur Bahnhofstraße. Dort befand sich einst die Synagoge. Zusätzlich zu den Stolpersteinen wurde in diesem Jahr als Erinnerung dort auch eine Stolperschwelle verlegt.
Antisemitismus, so machte Figaj deutlich, sei weder nur ein Mittelalter-Phänomen noch eine „Erscheinung der Nazis“, sondern verankert in der Gesellschaft. Wenn es die Umstände zuließen, zeige er sich in Worten und im Aussprechen von unsagbar Geglaubtem. „Er kann unvermittelt zur offenen körperlichen Bedrohung werden, wie in Amsterdam“, sagte Figaj. Er fügte an: „Er kann ohne Vorankündigung töten, wie im November 1938“ – und wie später in Halle, Paris und München.
„Wenn wir uns dessen bewusst sind, haben wir einen wichtigen ersten Schritt zur Niederhaltung des Antisemitismus getan“, zeigte sich Thilo Figaj überzeugt. „Ob er jemals besiegt werden kann, wird wohl kaum jemand beantworten können“, erklärte er abschließend.
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