Lorsch. Was tun, wenn der Vater bei großer Sommerhitze partout seine dicke Pudelmütze zum Spaziergang aufsetzen will? Oder die Mutter beim Bäcker zwei Kaffeestückchen kauft, mit einem 50-Euro-Schein bezahlt und zur Verkäuferin sagt: „Stimmt so?“ Es könnte sein, dass die Eltern unter einer Demenzerkrankung leiden. Knapp zwei Millionen Menschen in Deutschland leben mit dieser Krankheit – und es werden immer mehr. Über mögliche Hilfen informierten die Ärztin Dr. Jutta Weikel und die Diplom-Sozialarbeiterin Alexandra Mandler-Pohen auf Einladung des Lorscher DRK. Ihr Vortrag war sehr gut besucht.
Keiner weiß, ob er selbst einmal von Demenz betroffen sein wird. Die Wahrscheinlichkeit ist allerdings beträchtlich, mit der Krankheit zu tun zu haben – wenn nicht als Erkrankter, dann vielleicht als Partner oder Familienangehöriger. Im Jahr 2060 geht man von über drei Millionen Demenzerkrankten in Deutschland aus, berichteten die Fachfrauen. Wissen, was Demenz bedeutet und wie man damit umgeht, ist deshalb empfehlenswert. Alzheimer ist die häufigste Demenzform – und viele Menschen haben Angst vor ihr.
Sich bei Alzheimer Hilfe suchen
Wer einer Erkrankung vorbeugen will, verzichtet aufs Rauchen, achtet auf sein Gewicht und eine gesunde Ernährung, vermeidet viel Alkohol und hält sich geistig und körperlich fit. Gegen den größten Risikofaktor allerdings ist jeder machtlos: das fortschreitende Lebensalter. Als Senior muss man natürlicherweise in vielen Bereichen Abstriche bei der Leistungsfähigkeit akzeptieren. Das Gehirn wird etwas kleiner, die Reaktionszeit länger – das ist normal und gehört zum Altern dazu, so Weikel. Ebenso ist es nicht ungewöhnlich, ab und an ein Wort zu vergessen.
Gelegentlich eine Information nicht umgehend parat zu haben, das ist im Alter nichts Besonderes, denn das Kurzzeitgedächtnis wird schwächer. Meist erinnern sich Senioren an den entfallenen Namen oder den vergessenen Termin aber wieder. Bei Alzheimer hingegen treten immer mehr Wortfindungsstörungen auf, gehen kontinuierlich Fähigkeiten verloren, die erlernt wurden und lebenslang zur Routine gehörten. An Spielregeln und Kochrezepte kann man sich irgendwann ebenso wenig noch erinnern wie an Gesichter vertrauter Personen – und man verlegt nicht nur Gegenstände, sondern weiß auch nicht mehr, wozu diese überhaupt zu gebrauchen sind.
Wer in Gedanken versunken einmal Schuhe im Kühlschrank abgestellt hat, kann vielleicht über sein Versehen sogar lachen, dem Alzheimerpatient würde der Fehler aber auch im Nachhinein nicht auffallen. Alzheimer ist eine bislang unheilbare Störung des Gehirns.
Sprechen, denken, Orientierung und Alltagsfähigkeit geht verloren
Vergesslichkeit ist nur ein Teil der Krankheit. Die Demenz nimmt dem Betroffenen im Laufe der Zeit Orientierung und Motivation, beeinträchtigt Sprachfähigkeit, Denkvermögen, Gefühlswelt. Die Alltagsfähigkeit geht verloren. Weikel skizzierte leichte, mittelschwere und schwere Demenzerkrankungen. Anfangs fallen Unsicherheiten und Überforderungen, Motivationsmängel und Versagensängste bestenfalls Angehörigen auf. Eine mittelschwere Demenz mit Orientierungslosigkeit, einer fehlerhaften Sprache und Symptomen wie einem gestörten Tag-Nacht-Rhythmus macht das Zusammenleben jedoch auch für die Familie schwer. Nachts sind Menschen mit Demenz oft viel auf den Beinen.
Bei schwerer Demenz wissen Betroffene kaum mehr einen Löffel zu nutzen oder eine Flasche aufzuschrauben, sie können Kleidungsstücke oft nicht mehr richtig zuordnen und passend anziehen, leiden nicht selten unter Apathie und Inkontinenz. Wer die Diagnose Alzheimer erhält, für den ist das „ein großer Schock“, hieß es beim Info-Abend.
Alzheimer-Patienten sollte man Routinen und Aufgaben geben
Wie bewältigt man den Alltag einer solchen Krankheit ohne Aussicht auf eine Heilung? Das gelingt nur mit Zeit, Geduld und sehr viel Verständnis. „So wie er ist“, müsse man den Partner akzeptieren – und „nicht so, wie er mal war“. Dass dies schwierig ist, bestritt Weikel nicht. Sie riet dazu, Routinen zu schaffen, den Alltag stressfrei zu gestalten, den Erkrankten idealerweise, so gut es geht, einzubinden. „Kleine Aufgaben geben und machen lassen“, empfahl sie: Ihm Erfolgserlebnisse vermitteln, auch wenn das Ergebnis nicht den Erwartungen entspreche.
Nehme man dem Erkrankten stets ab, was er noch selbst erledigen könnte, verliert er Fähigkeiten eher noch rascher. Die Basisbedürfnisse – Hunger, Durst, Toilettengang – seien von den Angehörigen mitzudenken, wenn der Betroffene sie nicht mehr selbst äußern kann. Ihm Bewegung zu verschaffen, Spaziergänge zu ermöglichen, ihn wach zu halten, Dinge ein- und ausräumen zu lassen, ist im Zweifel besser, als ihn dauerhaft mit Tabletten, die Nebenwirkungen haben, ruhigstellen zu wollen.
Hut ab, wer es fertigbringt, trotz unendlich vieler schwieriger Situationen, Humor zu behalten. Wer das schafft, hat viel gewonnen. Mandler-Pohen berichtete den Zuhörern einfühlsam von ihren Erfahrungen aus der Seniorenberatung und ihren persönlichen Erlebnissen mit ihrer demenzkranken Mutter. Den Erkrankten zu tadeln für das, was ihm nicht mehr gelingt, ist nicht nur sinnlos, es macht die Situation schlimmer. Die Expertin warnte vor Eskalationen und der Annahme, der Kranke benehme sich „mit Absicht“ so. Oft fehle das Verständnis und das Wissen um die Erkrankung.
Über die Krankheit Alzheimer aufklären statt sie verschweigen
Ratsam sei es, sich um einen wertschätzenden Umgang zu bemühen und den Erkrankten, wo möglich, zu loben. Viele Familien neigten dazu, die Krankheit schamhaft zu verschweigen. Besser sei es, die Nachbarn aufzuklären, so die Referentin. In dem kleinen Ort, in dem ihre Mutter lebte, sei die Umgebung informiert worden und in alle Kleidungsstücke der alten Dame habe sie Namenszettel genäht. So habe man ihre „Weglauftendenz“ nicht unterbinden müssen, sie sei stets wieder freundlich auf den Weg gesetzt worden. Das sei ein Stück Lebensqualität für die Mutter gewesen. Es gibt auch praktische Spezialkleidung.
Zeit schenken, vor Überforderung schützen, für Ruhe sorgen und mit wenigen Infos klar kommunizieren, ist hilfreicher als Diskussionen mit Menschen mit Demenz anzuzetteln. Es gebe, so die Fachfrau, viele Möglichkeiten, dem anderen freundlich und zugewandt zu sagen: „Das freut mich.“ An Ritualen, am Betrachten alter Fotos, an Musik und Singen haben Kranke lange Freude.
Allein mit gutem Willen ist die Situation selbstverständlich nicht immer zu managen. Die Belastung für Angehörige ist oft enorm und geht an die Substanz. Bei schwerer Erkrankung, verbunden etwa mit einer Stuhl-Inkontinenz, braucht man stationäre Pflege. Mandler-Pohen informierte auch über Tagespflege-Angebote und riet Angehörigen, gewonnene Zeit dann nicht für den Hausputz zu nutzen, sondern zur Erholung für sich selbst.
„Marotten“, wie die Pudelmütze im Sommer, könne man tolerieren, wenn es den Betroffenen glücklich mache. Zu Gelassenheit rieten die Fachfrauen auch bei anderen Veränderungen, die mit dem Abbau-Prozess des Gehirns einhergehen. Essen mit den Fingern statt mit Besteck kann Erkrankten zum Beispiel helfen. Alzheimer-Erkrankungen verlaufen individuell unterschiedlich. Manche Personen könnten laut und aggressiv werden, stille anhänglich.
Gleichgültigkeit wird von den Betroffenen wahrgenommen, wissen Demenz-Experten. Wer respektvoll mit Erkrankten umgeht und Hilfen annimmt, könne durchaus schöne Momente erleben. Mandler-Pohen berichtete, dass sie in der schweren Zeit neue Seiten an ihrer Mutter kennengelernt habe.
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