Lorsch. Im Rahmen ihrer preisgekrönten Aktion „Dahoam in Lorsch“ richtet die Stadt Lorsch in ihrer Ortsmitte den Sommer über unterschiedliche Räume ein. Dekoriert als Wohnzimmer war bereits die Zehntscheune auf dem Klostergelände zu erleben, am Donnerstag waren Interessierte ins Schlafzimmer eingeladen. Im Lorbacher Hof sollten die Besucher einen entspannten Abend bei humorvoller Bettlektüre verbringen können. Das Wetter allerdings durchkreuzte die Planung.
Eine Szenerie wie das vom „Armen Poeten“ – das berühmte Gemälde von Carl Spitzweg zeigt einen Bücherfreund mit einem Regenschirm im Bett sitzend – gab es aber nicht. Die Organisatoren vom städtischen Kulturbüro verlegten die Aktion kurzerhand vom Freien in den naheliegenden Paul-Schnitzer-Saal. Möbliert als Schlafzimmer hat diesen zuvor bestimmt auch noch kein Besucher gesehen.
Umgeben von Teddybären und anderen Kuscheltieren, Leselampe, Kerzen und mehreren kleinen Bücherstapeln lasen Heidrun Scheyhing und Nicole Fink dort dann ausgewählte Gedichte zu einer guten Nacht vor. Barfuß, beziehungsweise mit Puschen und in bequemer schlafanzugweißer Kleidung, trugen die geübten Lorscher Rezitatorinnen poetische Werke vor.
Gebrauchslyrik gehörte dazu, bekannte klassische Gedichte sowie Verse moderner Autoren und auch Reime für Kinder – über eine Kissenschlacht beispielsweise. Es ging um Einschlafrituale wie am Daumen nuckelnde Babys, um Nachtgedanken, um Träume und um Schlafprobleme. „Bei Vollmond pennt der Papa nicht“, erinnerten die Vorleserinnen.
Sie machten bekannt mit Mascha Kalékos „Sternenanzünder“, der die Mondlaterne anknipst und begleiteten Hermann Hesse „Beim Schlafengehen“, der in seinem Gedicht so wundervoll formulierte Aufforderungen wie „Stirn, vergiss du alles Denken / Alle meine Sinne nun wollen sich in Schlummer senken“ ersonnen hat. Selbstverständlich wurde auch auf Eugen Roth mit seinen „Ein Mensch“-Gedichten nicht verzichtet: „Ein Mensch denkt nachts in seinem Bette / was er gern täte, wäre, hätte“.
Während der Vollmond auch heutzutage noch manchen am Schlafen hindert, sind andere Nachtruhestörer glücklicherweise selten geworden. Wilhelm Busch dichtet über einen Floh im Kämmerlein bei Lampenschein.„Ich gehe mit meinen Wanzen schlafen“, schreibt Kurt Tucholsky von seiner Unterkunft bei „einem Grafen“ vordergründig nur von Pieksern der unliebsamen Tierchen, zwischen den Zeilen von politischer Unordnung. „Und wenn ich eine sanft zerdrücke, gedenk ich dein“, endet sein Text.
Tucholsky wurde umgedichtet
„Kurt mag uns verzeihen“, bat Scheyhing, als sie zudem Tucholskys „Ideal und Wirklichkeit“ vortrug, denn die letzte Strophe hatten die Rezitatorinnen kreativ umgedichtet, aktualisiert und wurden dafür mit Sonder-Applaus belohnt. „Man möchte immer eine große Lange / und dann bekommt man eine kleine Dicke“ beschreibt der Autor in seinem Werk aus den späten 1920er Jahren manche auch politische Enttäuschung. „Wir dachten unter kaiserlichem Zwange / an eine Republik – und nun ist‘s die!“, heißt es in Tucholskys Original. Scheyhing und Fink ersetzten die Kaiserzeit durch „Ampelzwänge“, reimten über die anschließende Sehnsucht von Wählern nach „einem großen Langen“ und schlossen: „Jetzt haben wir ihn.“
Friedrich Hebbels „Nachtgedanken“ waren zu hören sowie ein Gedicht der Lorscher Autorin Renate Heidler und Frech-Erotisches, das mit den Zeilen beginnt: „Ich mach‘ es gern auf einem Lindenbaum / im Klassensaal und auch im Kofferraum“ und unendlich viele weitere Orte auflistet – Friedhof, Beichtstuhl, Chefetage und Krönungssaal etwa. Aber die Verse mit dem Refrain „Nur nachts im Bett, will ich alleine bleiben“ sind vom Satiriker F. W. Bernstein und natürlich alles andere als platt. Die „Schlafsolistin“ heißt das Gedicht. Es gehe ums Geigenspiel, so die Rezitatorinnen, als das Publikum applaudierte.
Betthupferl zum Abschied
Mit ihren geübten Stimmen führten die erfahrenen Vorleserinnen ihre Zuhörer sicher durch Traumhäuser, zu Schutzengeln und geheimen Liebschaften, etwa zum „Ferngruß von Bett zu Bette“ von Joachim Ringelnatz. In der Pause gab es bei Jana Lenhart Sekt oder Selters, die Kulturbüro-Leiterin bedankte sich für die „grandiose Auswahl“ der Vorleserinnen. Heidrun Scheyhing hatte außerdem köstliche Betthupferl-Kekse gebacken, die zum Abschied an die Besucher verschenkt wurden.
Leser, die bei den dekorativ platzierten gebrauchten Büchern im Saal fündig wurden, durften Lektüre für daheim mitnehmen. Ein Mathebuch gab es ebenso zu entdecken wie einen Krimi von Mickey Spillane, für dessen Romane um den Privatdetektiv Mark Hammer man allerdings starke Nerven braucht. Heiteres für die Nacht war beim Publikum gefragter. Bedanken konnte man sich im Gegenzug mit einer Spende für den Förderverein der Wingertsbergschule.
Jana Lenhart informierte über die kommenden „Dahoam“-Aktionen. Am 7. August (Donnerstag) lädt ein „Dämmerschoppen“ in die Lorscher Küche in der Ortsmitte ein, zudem ist das Wohnzimmer in der Zehntscheune wieder gratis geöffnet, dort gibt es Live-Musik.
Am 15. August (Freitag) heißt es „Ab ins kühle Nass“. Auf der Klosterwiese wird ein Outdoor-Badezimmer eingerichtet. Ab 15 Uhr können sich Kinder dort auf eine Wasserschlacht freuen. Vor allem jüngere Fußballfans werden den erneuten Besuch von Jannik Freestyle herbeisehnen. Er kommt am 28. August nach Lorsch. sch
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