Lorsch. Beim Chaostheater Oropax hat der Wahnsinn Methode: seit 40 Jahren bereichern die Brüder Volker und Thomas Martins aus Freiburg die deutschen Bühnen mit unberechenbar anarchischer Komik jenseits aller Schubladen.
Ihr Genre haben sie im Grunde selbst erfunden: ein Mix aus Physical-Comedy, Slapstick und Groteske, ausgarniert mit gelenkig-spontaner Wortakrobatik, absurden Dialogen und szenischem Improvisationstheater. Mitte der 80er war das nationale Avantgarde. Die Live-Programme des top eingespielten Duos sind nach wie vor voller Überraschungen. Wenn man einer ihrer Experimental-Shows beiwohnt, ist die Dramaturgie sogar noch eine Spur riskanter.
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Das doppelte Gastspiel im Theater Sapperlot war ausverkauft. Das Publikum erlebte eine wilde Vorstufe von dem, was im Herbst unter dem Titel „Ordentlich Chaos“ als neues Programm präsentiert werden soll.
Die Zuschauer in Lorsch waren sozusagen die Labormäuse für eine unberechenbare Testreihe, in der die beiden Extremkomiker frische Ideen und Szenen vor Live-Kulisse ausprobieren, um die Reaktionen zu beobachten. Entsprechend hoch war die Freude am Spielen, der intensive Körpereinsatz und die ungebändigte Lust am Kalauern, was sich bei den Breisgauern grundsätzlich nah am Publikum ereignet und den Draht ins Auditorium meistens schnell zum Glühen bringt.
Unvorhersehbares Bühnenspiel
Die nicht-lineare Dynamik und Unvorhersehbarkeit des Bühnenspiels bei Oropax machen ganz einfach brutalen Spaß. Dennoch lässt sich beim Duo hinter all dem Durcheinander, dem organisierten Blödsinn und der sprachlichen Ad-hoc-Bildungswut eine Struktur erkennen. Aus vielen roten Fäden entsteht ein buntes Wollknäuel, denn das ist die Masche der Brüder, die 1983 mit Jan-Erik Gürth angefangen und ab 1989 mit „Der kürzeste Witz aller Zeiten“ als Duo weitergemacht haben.
Ihre Shows sind unkalkulierbare Wirbelwinde, reich an kreativen Einfällen und selbst angefertigten Requisiten. Die Szenen entstehen aus dem Moment heraus und entfalten ihre komische Qualität meist im Augenblick ihrer Schöpfung, weshalb man Augen und Ohren fein in Richtung Bühne justieren sollte, um das Tempo und den bisweilen subversiven Witz der Brüder mitgehen beziehungsweise aufnehmen zu können.
Leute aus dem Publikum werden gelegentlich angesprochen, herausgeholt wird keiner. Das wäre zu einfach. Starre Dialoge gibt es scheinbar nicht, die Pointen blühen und verwelken in wenigen Sekunden. Kleine Demütigungen innerhalb der Familie sind die Regel. Viele Späße beziehen ihren Gehalt aus der Wiederholung, ganze Kalauerketten rasseln da in kontrolliertem Chaos über die Bühne. Running Gags, die das Duo schon seit Jahren mitschleppt, sind vor allem für das geübte Publikum auslösende Momente der Glückseligkeit. Prominenteste Bühnenfigur ist ein komischer Heiliger („Ich bün oin Mönch“), den Thomas Martins mit langem Gesicht und aufgerissenen Augen verkörpert. Auch Harald Pinski ist einer seiner festen Charaktere.
Die Brüder kommen als Pferdeflüsterer, saugen sich mit Industriesaugern die Getränke weg und futtern sich als Raupe Nimmersatt quer durch den Kühlschrank. Thomas Martins frisst Waffeln, Gurken und Leberkäse und spült das Ganze zunächst mit Würstchenwasser und später mit sechs Fläschchen Actimel herunter. Die Transformation vom Engerling zum Schmetterling geht der Made durch den Magen. Von dort aus ist es nur ein kurzer Weg in die ebenso appetitliche „Wunderwelt des Verdauungssystems“ – beziehungsweise an dessen Ausgang, wo die zweistündige Experimental-Show – wie so vieles andere auch – auf aromatische Weise endet. Wer dem Duo kontrolliertes Chaos mit einstudierter Spontaneität vorwirft, liegt sicherlich nicht ganz falsch. Bei Oropax gelingt Spontaneität aber dermaßen perfekt, dass man sich den Illusionen gerne aussetzt. Entweder man mag sie oder eben nicht. Ein Selbstversuch ist immer aufschlussreich. tr
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