Lorsch. Gerade noch hat das Ehepaar, wie üblich, ein bisschen gezankt am Frühstückstisch, weil er schon wieder zur Zigarette greift. Als sie mit Kaffee für beide aus der Küche zurückkommt, ist es allerdings plötzlich vorbei mit der gewohnten Streiterei. Denn der Mann, mit dem sie 42 Jahre liiert war, ist tot: Herzinfarkt. Jutta ist von einer Minute auf die andere Witwe – und die letzten Worte ihres Gatten zu ihr bleiben nun unwiderruflich „zickige Ziege“.
„Der Anfang ist ein bisschen depressiv“, räumt Susanne Fröhlich ein, Bestsellerautorin und Erfinderin von Jutta. Andererseits – so schlecht trifft es Jutta nun auch wieder nicht. Fröhlich schickt ihre Protagonistin anschließend höchst unterhaltsam durch eine turbulente Familiengeschichte und manch amouröse Verstrickungen. „Heimvorteil“ heißt der neue Roman der Frankfurterin, mit dem sie am Mittwoch in Lorsch im Rahmen der Aktion „Stadt-Lesen“ gastierte.
Mama soll ins Seniorenheim
Das Publikum erlebte einen sehr vergnüglichen Abend. Denn die Schriftstellerin und langjährige Moderatorin beim Hessischen Rundfunk schaut gerne genau hin, nimmt kein Blatt vor den Mund, kommt mit ihren Zuhörern sofort ins Gespräch und weiß nicht zuletzt aus eigener Erfahrung, dass „in Familien nicht alles superklasse ist“.
Juttas Kinder jedenfalls sind scharf auf Mutters kleines Häuschen und wollen die 68-Jährige ins Seniorenheim komplimentieren – am besten in ein Heim an der tschechischen Grenze. Überhaupt, so findet der Nachwuchs, sollte Mama deutlich bescheidener leben. Jutta, die sich nie etwas gönnte, erzählt dann lieber nicht so genau, was sie für die Erfüllung ihres Herzenswunsches zahlte. Günstige 20 000 Euro habe die neue Küche gekostet, flunkert sie – und weil schon diese Summe den Kindern Schnappatmung verursacht, behält sie den in Wahrheit fast doppelt so hohen Preis für sich und fährt Richtung Tschechien. Sie will nur mal sehen, was die Kinder sich für sie im Alter so ausgedacht haben.
Was nicht vorgelesen wurde
Susanne Fröhlich bringt Jutta zum Probewohnen ins Heim und in eine vegane polyamouröse Senioren-WG. Die Heldin erlebt skurrile Situationen, als sie einem Toten im Sarg begegnet, einen Yogakurs mit einem 100-Jährigen belegt und insgesamt eine witzig zu lesende spätemanzipatorische Entwicklung durchmacht. „Den Rest müssen Sie alleine lesen“, erklärte Fröhlich nach gut einer Stunde Vorlesezeit, dass sie nicht alles verraten wolle. „Bleibt sie unbemannt?“, wollte eine Zuhörerin aber doch vor dem möglichen Kauf des Romans wissen. „Nein“, antwortete die Autorin. Jutta erlebe sogar „wilden Sex“. Diese Szenen habe sie aber in Lorsch nicht vortragen wollen.
Am Ende gehe „Heimvorteil“ gut aus, beruhigte Susanne Fröhlich. Ihren Lesern wolle sie im Unterhaltungsroman „kein Superdesaster“ servieren. Autobiografisch sei ihre Geschichte übrigens nicht, erklärte sie. Sie selbst sei im Gegensatz zu Jutta recht resolut.
Gekauft statt selbst gebacken
Als Fröhlich den Zuhörern in Lorsch gestand, dass sie als junge Mutter manchmal Muffins gekauft und sie dann ein bisschen zerdrückt habe, damit sie so wie selbst gemacht aussehen sollten, gingen im Publikum Daumen hoch. Ein bisschen Egoismus tue gut, auch mit dem Neinsagen oder dem Suchen von Entschuldigungen dafür habe sie als inzwischen 59-Jährige kein großes Probleme mehr. Einfacher Grund: „So viel Lebenszeit habe ich nicht mehr.“
Ein 272 Seiten starkes Buch, bei dem Leser viel zu lachen haben, schreibt sich natürlich nicht in drei Wochen, verriet Fröhlich auf der Bühne. „Schreiben ist Arbeit“, machte sie klar. Etwa ein Jahr brauche sie für ein Buch. Und wann erscheint der nächste Band ihrer beliebten „Andrea Schnidt“-Reihe? Im Frühjahr, kündigte Fröhlich an. In Lorsch erhielt sie viel Beifall für die Lesung, die „Heimvorteil“-Bände zahlreicher Buchkäufer signierte die Promi-Autorin zum Abschied ebenfalls gerne.
Lorsch als „kleine Kulturhauptstadt“
- Lorsch gehört erneut zu den kleinsten Orten, die bei der Aktion „Stadt-Lesen“ berücksichtigt wurden. Die Innovationswerkstatt aus Salzburg, die öffentliche Plätze mit jeweils 3000 Bücher für ein paar Tage in große Lese-Wohnzimmer unter freiem Himmel verwandelt, fährt zum Beispiel nach München, Berlin und Wien. Sie gastiert aber, zum wiederholten Mal, auch in Lorsch.
- „Wir sind eine kleine Kulturhauptstadt“, begrüßte Bürgermeister Christian Schönung die Besucher der Autorenlesung. Fast zeitgleich, ebenfalls am Donnerstagabend, konnte man in Lorsch schließlich auch Aufführungen der Theaterspielgemeinschaft genießen oder das Rex-Open-Air auf der Klosterwiese. Dass Lorsch erneut „Lese-Stadt“ wurde, darauf sei man „stolz“.
- Sebastian Mettler, Inhaber der Innovationswerkstatt, machte in seinem Vortrag auf die Bedeutung des geschriebenen Wortes aufmerksam und skizzierte eine Welt ohne Bücher als eine Albtraum-Welt, in der Fantasiefähigkeit degeneriert und letztlich verschwindet.
- Die Aktion „Stadt-Lesen“ soll Büchern eine Bühne bieten. 125 Verlage stellen Titel zur Verfügung, in denen jeder nach Herzenslust auf dem mit Liegestühlen und Hängematten ausgestatteten Benediktinerplatz schmökern kann.
- Bücher sorgten für Genuss und Glück, so Sebastian Mettler, der ihnen zudem „Heilkraft“ attestierte. Er rief zum „Selberlesen“ auf. Bis einschließlich Sonntagabend (17.) bleibt „Stadt-Lesen“ in Lorsch.
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