Gesundheit - Sieben Mediziner über die hausärztliche Versorgung

„Ärztemangel kommt nicht – er ist schon da“

Von 
Nina Schmelzing
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Die künftige hausärztliche Versorgung beschäftigt derzeit viele Lorscher. © dpa

Lorsch. Die hausärztliche Versorgung und die Befürchtung einer möglicherweise drohenden Unterversorgung in Lorsch waren ein Thema in der Finanzausschuss-Sitzung am Dienstag. Anlass war, dass die Zahl der Hausärzte durch eine Praxisschließung mit zwei Zulassungen Ende 2018 von neun auf sieben geschrumpft ist. Der Versorgungsgrad liege immer noch bei 86 Prozent, hieß es in der Sitzung, eine Unterversorgung werde von der Kassenärztlichen Versorgung erst ab einem Wert unter 75 Prozent gesehen. Ortsansässige Mediziner, die die wegbrechende Gesundheitsversorgung ebenfalls sehr beschäftigt, beurteilen die Situation etwas anders. „Es ist leider nicht so, dass in drei bis vier Jahren eine Unterversorgung möglich ist, die Unterversorgung ist bereits eingetreten“, erklärte dazu gestern jedenfalls Dr. Winfried Grätz.

Sechs Ärzte mit voller Sprechzeit

Der Allgemeinmediziner, der 29 Jahre lang gemeinsam mit seiner Ehefrau, einer Fachärztin für Innere Medizin, eine Praxis mit zwei Zulassungen in Lorsch führte, rechnet vor: „Lorsch hat etwa 14 0000 Einwohner, die derzeit von sechs Ärzten mit vollen Sprechzeiten und einer Ärztin mit reduzierten Sprechzeiten versorgt werden, nachdem die Mediziner Grätz die Kassenarztpraxis beendet haben.“

Trotz „intensiver Suche über viele Monate“ sei kein Nachfolger gefunden worden, sagt Winfried Grätz, der nun mit 67 Jahren in den Ruhestand gegangen ist. „Rechnet man 1670 Patienten pro Arzt, so haben wir einen Versorgungsgrad von 77 Prozent. Dies bedeutet eine Unterversorgung im hausärztlichen Bereich von 23 Prozent.“

„Um die hausärztliche Versorgung in Lorsch für die nächsten Jahre sicherzustellen – einige Kollegen haben das 60. Lebensjahr deutlich überschritten – hatten wir Kontakt zur Ägivo eG aufgenommen. Um die zur Fortführung der Hausarztpraxis nötigen Kreditmittel von der Bank zu erhalten, würde die Ärztegenossenschaft eine Förderung der Kommune von 80 000 Euro benötigen“, erläutert Grätz. 50 Prozent dieser Mittel bekäme die Kommune vom Land zurück, so Grätz.

„Damit hätte die Kommune nur noch 40 000 Euro im Vorfeld als Finanzierung für eine wohnortnahe Versorgung der Lorscher Patienten zu tragen“, erklärt der Mediziner.

„Sachstand heute ist: Ägivo suchte und fand Ärzte, konnte diese aber nicht einstellen, weil die Finanzierung dieser Arbeitsverhältnisse ohne diese Fördermittel nicht sichergestellt werden konnte.“ Die Ärztegenossenschaft vorderer Odenwald Ägivo sei eine Genossenschaft „ohne dickes Eigenkapitalpolster“, über die zusammengeschlossene Ärzte Medizinische Versorgungszentren (MVZ) betreiben und die Abrechnung gegenüber den Krankenkassen übernehmen.

„Wer sich in der Materie auskennt, weiß, dass zwischen Abrechnung und Geldfluss in der Regel fast sechs Monate liegen. Kein Handwerker würde solche Zahlungsziele akzeptieren – Hausärzte müssen damit leben“, teilt Winfried Grätz in einer Stellungnahme mit, die auch von seinen Kollegen aus Lorsch und Einhausen Dr. Ute Grätz, Dr. Elena Deipenbrock, Dr. Dagmar Eisel, Dr. Marc Wermann sowie Wolfgang Zobel und Andreas Gärtner unterzeichnet ist.

Leider habe sich der Magistrat der Stadt Lorsch – trotz ausführlicher Information – nicht in der Lage gesehen, diese Summe zur Verfügung zu stellen, so die Ärzte. In ihrer Mitteilung heißt es: „Herr Bürgermeister Schönung hat in seinem Wahlprogramm der Sicherstellung der ärztlichen Versorgung einen hohen Stellenwert eingeräumt. Die Stadt Lorsch rühmt sich in Pressemitteilungen mit der Verbesserung der ärztlichen Versorgung (Programm Aktive Kernbereiche). Durch den Ärztemangel ist aber auch die hausärztliche Versorgung, der mit viel Proganda angekündigten Einrichtungen Römerhaus (Altenzentrum) und des Fachpflegezentrums nicht gewährleistet, so dass eventuell die Heimaufsicht einschreiten muss.“

Sehenden Auges in die Krise

Die Stadt Lorsch schlittere damit sehenden Auges in eine Versorgungskrise, warnen die Ärzte, „weil die Politiker nicht in der Lage sind, über den Tellerrand zu blicken und eine Entscheidung für die Zukunft zu treffen“. Die nahtlose wohnortnahe Versorgung im Rahmen der im hessischen Koalitionsvertrag festgeschriebenen Daseinsvorsorge sei aber „selbstverständlich auch eine kommunale Aufgabe“, betonen Winfried und Ute Grätz, Elena Deipenbrock, Dagmar Eisel, Wolfgang Zobel, Marc Wermann und Andreas Gärtner.

„Aktuell keine Unterversorgung“

Guido Pschera, der seit 15 Jahren in Lorsch eine Praxis für Allgemeinmedizin führt, teilt die Meinung seiner Kollegen nur bedingt. „Aktuell sehe ich keine Unterversorgung“, sagt er. Selbst wenn es für die aufgegebene Praxis keine Nachfolger geben würde, sei das nicht der Fall, so der 49-Jährige. „Nicht jeder Einwohner geht in jedem Quartal zum Arzt“, sagt Pschera zu den Berechnungen. Im Vergleich mit anderen Kommunen sei Lorsch gut versorgt. Wenn sich die Situation weiter verschlechtere, dann wäre die Versorgung „schwierig“. sch

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