Landeskirchliche Gemeinschaft Lautertal

Vortrag in Reichenbach zum Thema Vaterlosigkeit

Von 
Philipp Kriegbaum
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Stefan Kaiser erzählte auch von seinen ganz persönlichen Vater-Sohn-Erfahrun-gen. © Thomas Zelinger

Reichenbach. Was hat der Zweite Weltkrieg damit zu tun, wenn heute ein junger Mensch kriminell wird oder sich radikalisiert? Viel, meint Stefan Kaiser. Denn wegen des Zweiten Weltkriegs mussten viele Jungen ohne Vater groß werden. Oder ohne einen Vater, der seine Rolle ihnen gegenüber wahrnehmen konnte. Über die von ihm ausgemachten Folgen dieser Situation sprach der diplomierte Sozialpädagoge kürzlich in einem zweistündigen Vortrag im Haus der Landeskirchlichen Gemeinschaft Lautertal in Reichenbach im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Mann trifft sich“.

Zuhörer des Vortrags sollten Fragen mit ihren Vätern klären

Drei Aufträge bekamen die etwa 30 Zuhörer von ihm mit nach Hause. Erstens. So schnell wie möglich offene Fragen mit dem eigenen Vater klären, vielleicht sogar mit einem Telefonanruf noch am selben Abend. Zweitens: Nicht bitter werden, wenn das nicht gleich funktioniert. Und drittens: Auch mal sagen „Es tut mir leid“ – sowohl zum eigenen Vater als auch zu den eigenen Kindern.

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Der 51-jährige Vater von fünf Kindern weiß, wovon er spricht. In seinem Job bei der Selbsthilfeeinrichtung „Fleckenbühler“ bei Marburg hat er es rund um die Uhr mit Menschen zu tun, die versuchen, von einer Sucht loszukommen, und die in der Gesellschaft gemeinhin unter der Rubrik „gescheitert“ einsortiert werden. Und so gut wie alle, sagte Kaiser, kommen aus kaputten Familien. Ein zerrüttetes oder überhaupt nicht vorhandenes Verhältnis zum eigenen Vater ist bei dieser Klientel eher die Regel als die Ausnahme.

Kriegsbedingte Vaterlosigkeit

Unter den Gefallenen des Zweiten Weltkriegs waren viele Väter, die ihre Kinder nie zu Gesicht bekamen. Die überlebenden Heimkehrer mussten ihr eigenes Trauma aufarbeiten und verstanden oft die Welt nicht, in der ihre Kinder groß geworden waren.

Als anschauliches Beispiel führte Kaiser den Film „Das Wunder von Bern“ an. Dieses Prädikat verliehen Fußballfans dem Gewinn der Fußball-Weltmeisterschaft 1954 durch die deutsche Nationalmannschaft. Im Film steht es auch für das mühsame Zusammenfinden von Vater und Sohn mit glücklichem Ende beim WM-Endspiel in Bern.

Vaterlos durch "Techtelmechtel" der Mutter mit Besatzungssoldat

Kaiser bezog sich unter anderem auf den Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich. Dieser legte 1963 seine Studie über den „Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ vor. Außerdem teilte der Referent seine höchst persönlichen Vater-Sohn-Erfahrungen: Sein Großvater war ein amerikanischer Besatzungssoldat, der „ein Techtelmechtel“ mit seiner Großmutter hatte. Als in Deutschland sein Sohn zur Welt kam, war er längst zurück in den USA.

Das Leben in ihrer streng katholischen Familie war für die Kindesmutter ebenso schwierig wie für ihren unehelichen Sohn, Stefan Kaisers Vater. Nie wurde in der Familie über die Geschichte gesprochen. Die Affäre mit dem Amerikaner war ein Tabu-Thema.

Moderne Form der Vaterlosigkeit durch Fixierung auf Karriere

Den Namen ihres Geliebten nahm die Großmutter mit ins Grab. Auch ihr Sohn fragte nie nach und wurde später selbst Vater von Zwillingsjungen. Erst Jahre später habe der Zwillingsbruder des Referenten durch Recherchen in den USA die Identität des Großvaters herausbekommen und zumindest einen telefonischen Kontakt herstellen können.

Eine moderne Form der Vaterlosigkeit könne laut Kaiser auch vorliegen, wenn der Vater so stark auf Beruf und Karriere fixiert sei, dass ihm die Zeit für Zuwendung zur eigenen Familie fehle. Wer ohne eigenen Vater aufwachse, dem fehle in der eigenen Familie das Vorbild für das Erlernen der Vaterrolle.

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Zum Ausgleich des Defizits hatte Kaiser einen Rat: „Vielleicht hilft ein Blick in die Bibel. Sie ist voll von guten Eigenschaften, die ein Vater hat“, sagte der Referent und nannte Beispiele wie Vergebung, Barmherzigkeit, Wissen um die Bedürfnisse der Kinder und Liebe ohne Bedingungen.

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