Reichenbach. Zum 87. Jahrestag der sogenannten Reichskristallnacht hatte die Gemeinde Lautertal zu einer Gedenkfeier in die evangelische Kirche in Reichenbach eingeladen. Dabei spielten nicht nur die Geschehnisse im November 1938 eine Rolle. Die Redner betonten auch, wie schnell Antisemitismus sich auch heute wieder verbreitet – vor allem nach dem Angriff der Terrorgruppe Hamas auf Israel und dem folgenden Krieg im Gazastreifen.
Pfarrer Jan Scheunemann sagte, am 9. November solle nicht nur der Opfer des Jahres 1938 und der folgenden Vernichtung der europäischen Juden gedacht werden. Der Tag sei auch Anlass, grundsätzlich an die Opfer von Verfolgung und Terror zu erinnern. „Würde und Schutz eines Menschen sind nicht verhandelbar.“
Bürgermeister Andreas Heun bezeichnete den 9. November 1938 als „Auftakt zu einem beispiellosen Zivilisationsbruch“. Die Mitbürger der jüdischen Menschen hätten sich auf vielerlei Weise schuldig gemacht. Schuldig seien nicht nur diejenigen, die damals die Hand gegen Menschen und Eigentum erhoben hätten. Schuldig geworden seien auch die, die auf Widerstand verzichtet und weggesehen hätten, als ihre Mitbürger und Nachbarn verfolgt und ermordet worden seien.
„Was wir sehen und erleben, macht uns fassungslos“
Eine Wiederholung dieses Geschehens müsse verhindert werden, dazu gebe es eine „kollektive Verantwortung“, so Heun. Dabei könnten die Anfänge ganz banal sein, wie die Geschichte lehre. Heute sei die Gesellschaft bereits wieder „über das Banale hinaus. Was wir sehen und erleben, macht uns fassungslos.“ Denn die Zahl der antisemitischen Vorfälle steige in alarmierender Art und Weise. Heun sagte, im vergangenen Jahr seien 8627 Vorfälle gemeldet worden, also rund 24 pro Tag. Das seien 77 Prozent mehr als 2023. Das Bundeskriminalamt spreche von einer „dramatischen Zuspitzung“, sagte der Bürgermeister.
Der Anstieg sei auch auf den eskalierenden Konflikt im Nahen Osten zurückzuführen. Kritik am israelischen Vorgehen in Gaza schlage schnell in Antisemitismus um. Dabei sei auch zu bemerken, dass selbst etablierte Medien wegen einer einseitigen Darstellung des Konflikts kritisiert würden.
Die Bürger seien zurecht besorgt über die Entwicklung. Sie speise sich auch aus einer wachsenden Verunsicherung. Die Zahl der rechtsextremistischen Handlungen steige auch an Schulen, und es komme zu immer neuen Angriffen auf Synagogen. „Antisemitismus ist kein Randproblem“, so Andreas Heun. So mische sich in das Gedenken an den 9. November 1938 „neue Angst“ vor überwunden geglaubten Gefahren.
Angesichts dieser Entwicklung sei die Solidarität mit dem jüdischen Leben in Deutschland wichtig. „Es reicht nicht, Kerzen anzuzünden und Gedenkreden zu halten.“ Gleichzeitig diene die Erinnerung an die Geschichte dazu, den Opfern ihre Würde zurückzugeben. Heun erinnerte an die Stolpersteine, die in Elmshausen zum Gedenken an die Familie Israel verlegt wurden. Er erinnerte aber auch an den Lautertaler Ehrenbürger Max Liebster, der 1915 in Reichenbach geboren wurde und drei Konzentrationslager der Nazis überlebt hat. „Seine Geschichte ist ein Mahnmal.“
Die Gemeinde Lautertal leiste ebenfalls wichtige Beiträge, um das Gedenken zu bewahren: „Kleine Gesten als Zeichen gegen das Vergessen“, wie Heun sagte. Die Gemeinde sei „ein Ort des Friedens“, was aber nicht selbstverständlich sei. Die Bürger rief er dazu auf: „Schweigen Sie nicht, erheben Sie Ihre Stimme laut.“ Die Zeit sei dazu reif, Haltung zu zeigen, denn Antisemitismus sei „ nicht Geschichte, er ist Gegenwart“.
Zwei Soldaten, an die die Erinnerung ausgelöscht wurde
Helmut Adam, der Vorsitzende der Lautertaler Gemeindevertretung, sagte, das Pogrom am 9. November 1938 sei keinesfalls das erste gewesen, aber das schrecklichste. „Es war ein trauriger Tag, der nie in Vergessenheit geraten sollte.“ Zugleich habe sich die tödliche Verfolgung der jüdischen Mitbürger über Jahre hinweg fortgesetzt.
Adam erinnerte an Julius Marx und Salomon Mayer, zwei Soldaten aus Reichenbach, die im Ersten Weltkrieg getötet wurden. Im Reichenbacher Heimatbuch von 1936 würden sie nicht erwähnt. Zuerst seien Marx und Mayer in einen „unsinnigen Krieg“ geschickt und dort geopfert worden. Und schon wenige Jahre später sei die Erinnerung an sie ausgelöscht worden, weil sie Juden waren.
Auch Adam mahnte, dass der Frieden nicht selbstverständlich sei, auch wenn es in Deutschland seit 80 Jahren keinen Krieg mehr gegeben habe. Der Krieg im Nahen Osten wiederum sei eine direkte Folge des Holocausts. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg sei Israel als Staat gegründet worden, um den in den Jahren zuvor verfolgten Juden eine sichere Heimat zu geben.
Nach einem Gebet von Pfarrer Jan Scheunemann gingen die Besucher der Gedenkfeier zur früheren Reichenbacher Synagoge in der Bangertsgasse. Sie war am 9. November 1938 nicht zerstört worden, weil das Haus nicht mehr im Besitz der jüdischen Gemeinde war. Auch das war freilich eine Folge des Nationalsozialismus, der dafür gesorgt hatte, dass die kleine Gemeinde sich aufgelöst hatte. Seit 1988 gibt es an einer Mauer nahe der früheren Synagoge eine kleine Gedenkstätte. Hier legten Bürgermeister Andreas Heun und Helmut Adam, der Vorsitzende der Gemeindevertretung, zum Abschluss einen Kranz nieder.
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