Reichenbach. „Wir pflegen als kleine Gemeinde eine lebendige Erinnerungskultur und erheben unsere Stimme gegen das Vergessen“, sagte der Lautertaler Bürgermeister Andreas Heun bei der Gedenkfeier zur Reichspogromnacht in Reichenbach. Vor der Kranzniederlegung am Standort der ehemaligen Synagoge in der Bangertsgasse kamen in der evangelischen Kirche rund 80 Menschen zusammen, um an die vom nationalsozialistischen Regime organisierten und gelenkten Gewaltmaßnahmen gegen Juden zu erinnern.
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 brannten Synagogen und andere jüdische Einrichtungen im gesamten Deutschen Reich. Menschen wurden getötet, gedemütigt, verhaftet, misshandelt und vergewaltigt, Geschäfte und Wohnungen wurden demoliert und zerstört. Die damaligen Ereignisse gelten als Beginn der systematischen Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums unter deutscher Regie.
„Neue Qualität von Judenhass“
Ein Vorspiel zum Völkermord vor den Augen der Welt, das aufgrund der aktuellen Ereignisse in einem noch helleren Licht erscheint als in den Jahren zuvor. Zwar habe es auch nach dem Holocaust immer Antisemitismus in Deutschland gegeben, doch angesichts der Entwicklungen der Gegenwart warnte Heun vor einer neuen, gefährlichen Qualität von Judenhass. Der Hamas-Terror gegenüber Israel habe die Situation weltweit und vor Ort enorm verschlimmert. Jüdisches Leben sei heute massiv bedroht, der Antisemitismus lebe auch in deutschen Wohnzimmern weiter. In diesem Jahr haben die Angriffe auf jüdische Einrichtungen deutlich zugenommen, viele Veranstaltungen finden unter Polizeischutz statt. Auch an der Bergstraße. Seit 7. Oktober, also dem Tag der Terror-Anschläge der Hamas auf Israel, werden mehr Fälle antisemitischer Gewalt und Diskriminierung verzeichnet.
Der Bürgermeister forderte in der Kirche dazu auf, aktiv für Demokratie und Menschenrechte einzustehen. Es gebe keine Kollektivschuld, aber sehr wohl eine kollektive Verantwortung aller Deutscher dafür, dass Ähnliches nie wieder geschehen dürfe. Die Solidarität mit dem Staat Israel bedeute nicht, dass man das Leid der Menschen in Gaza vergesse. Israel habe ein Recht darauf, sich gegen Angriffe zu wehren.
Von Ideologien aufgeputscht
Der Vorsitzende der Gemeindevertretung, Helmut Adam, zitierte Passagen aus einem FAZ-Artikel über Zvi Cohen, der in Berlin geboren wurde und zwischen 1941 und 1943 versteckt dort gelebt hatte. 1945 emigrierte er mit einem englischen Kriegsschiff Richtung Palästina. Als er die Bilder vom 7. Oktober sieht und die Nachrichten hört, fühlt er sich an die schlimmste Zeit seines Lebens erinnert.
Hamas-Terroristen dringen in die Kibbuze nahe dem Gazastreifen ein, ermorden Juden, verschleppen sie, hämmern an ihre Türen. Vor 80 Jahren haben in Berlin Männer an die Tür der Dachgeschosswohnung gehämmert, in der er selbst mit seiner Familie gelebt hat. Damals hieß er Horst Cohn. Die Männer waren SS-Leute. Der Schwur „Nie wieder“ habe seinen Sinn verloren, sagt der 92-Jährige.
Auch Pfarrer Jan Scheunemann bezog sich auf das klare Bekenntnis, das seit dem Ende der Naziherrschaft immer wieder artikuliert wird. Doch welche Qualität könnten diese beiden Worte angesichts der aktuellen Ereignisse noch zum Ausdruck bringen, fragte der Pfarrer. „Nie wieder ist jetzt“ – mit diesem Satz wurde am gleichen Abend das Brandenburger Tor angestrahlt. Scheunemann stellte dieser Botschaft die grausamen Taten der Hamas gegenüber. Was sollte man sagen, wenn Menschen, aufgeputscht von Ideologien, andere Menschen foltern, verstümmeln und bestialisch ermorden? „Dieses Unrecht ist nicht in Worte zu fassen!“
Ein Appell des Pfarrers
Vielleicht sei die deutsche Zivilgesellschaft doch weiter auseinander gedriftet, als man das wahrhaben möge, so Jan Scheunemann angesichts der jüngsten Übergriffe auf jüdische Menschen und Einrichtungen. Juden in Europa hätten wieder Angst, sich öffentlich als Juden zu zeigen. Dies sei unerträglich und nicht zu dulden.
Der Pfarrer verwies auf die Rede von Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck, der in einem Video-Appell zu den Spannungen rund um den Krieg in Israel Stellung bezogen hat. Ein Plädoyer für Deutschlands Unterstützung für Israel, gegen Antisemitismus aller Art, aber auch für Religionsfreiheit. Auch Kritik an der Regierung Israels sei erlaubt. Verboten sei aber das Feiern von Gewalt an Juden. „Hass und Barbarei haben keinen Platz!“, so Scheunemann, der an alle appellierte, für demokratisch-freiheitliche Grundrechte einzustehen. Dazu gehörten auch christliche Werte, die unsere Gesellschaft mit prägen, so der evangelische Pfarrer. Die Gebete für den Frieden und für das „Nie wieder“ seien drängender denn je.
Worte allein genügen nicht
Er zitierte Christine Nöstlinger aus ihrer Rede im Rahmen der Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Mauthausen: „Vielleicht ist es ja so: Über den allgemein bekannten sieben Hautschichten hat der Mensch als achte Schicht eine Zivilisationshaut. Mit der kommt er nicht zur Welt. Die wächst ihm ab Geburt. Dicker oder dünner, je nachdem, wie sie gepflegt und gehegt wird. Versorgt man sie nicht gut, bleibt sie dünn und reißt schnell auf, und was aus den Rissen wuchert, könnte zu Folgen führen, von denen es dann betreten wieder einmal heißt: Das hat doch niemand gewollt!“ Nun geschehe es wieder – „auch bei uns“.
Für Bürgermeister Andreas Heun kommt gerade auch kleinen Gemeinden wie Lautertal eine große Rolle zu, sich gegenüber diesen Entwicklungen weiterhin klar zu positionieren. Er verwies auf das neugestaltete Denkmal für den Lautertaler Ehrenbürger Max Liebster, das einen Platz im Rathaus gefunden hat, nachdem es mehrfach beschädigt worden war. Auch die Stolpersteine am Rathausplatz in Elmshausen sollen an jüdisches Leben im Ort erinnern und für die Zukunft mahnen. „Demokratie ist eine innere Einstellung“, betonte Heun. Es sei neben persönlicher Haltung und Zivilcourage aber auch nötig, Unrecht zu erkennen und zu bestrafen. Dabei müsse der Rechtsstaat alle ihm verfügbaren Mittel nutzen. Worte allein scheinen nicht zu genügen, so der Rathauschef vor der Kranzniederlegung.
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