Reichenbach. Der Sitzungssaal im Rathaus in Reichenbach wurde zum Kino bei einem Filmabend des DGB Lautertal/Lindenfels. Jeder Besucher wurde persönlich begrüßt mit einem Glückskeks, einer Broschüre der Gewerkschafter und einem Getränk.
Der Vorsitzende Alexander Fritz begrüßte die Zuschauer. Fritz ist 19 Jahre alt und steckt mitten im Abitur am Alten Kurfürstlichen Gymnasium in Bensheim. Danach beginnt er eine Lehre zum Bankkaufmann bei der Sparkasse in Bensheim. Mit 16 Jahren ist er bereits in den Deutschen Gewerkschaftsbund eingetreten. „Nur gemeinsam können wir die Gesellschaft verändern, für faire Löhne und Arbeitsbedingungen kämpfen“, sagte er.
Den Film „The Old Oak“ hatte Lautertals Bürgermeister Andreas Heun ausgesucht. Er hat den 2023 mit der Goldenen Palme bei den Filmfestspielen in Cannes ausgezeichneten Spielfilm des britischen Regisseur Ken Loach schon gesehen. Bekannt ist der britische Filmemacher für seine sozialkritischen Dramen.
Im Mittelpunkt des Films steht die britische Kneipe „The Old Oak“, übersetzt „Die alte Eiche“. Es ist die letzte Kneipe in einem ehemaligen Grubendorf in der Grafschaft Durham im Nordosten Englands. Dort lebten die Familien seit Jahrhunderten vom Abbau von Kohle unter Tage. Bis 1984/85 – dann wurden die Gruben dicht gemacht, die Kohle aus anderen Ländern war inzwischen billiger zu haben.
Nur ein paar Hundert Dorfbewohner sind geblieben, denn ihnen gehören die Häuser. Sie wollen sie nicht verlassen und verkaufen. Im Film dreht sich alles um den Kneipenbesitzer TJ Ballantyne, gespielt von Dave Turner. Er tut alles, um sich und seine Gastwirtschaft – den letzten Treffpunkt im Dorf – über die Runden zu bringen.
Sein größtes Glück ist Marra, eine kleine Mischlingshündin. Mit ihr geht er zum Strand und wirft für sie Bälle ins Meer. Marra bedeutet auf Bergmännisch: „Alles wird gut“. TJ Ballantynes Vater starb bei einem Grubenunglück. Sein Sohn geht deshalb immer wieder an den Strand, um auf eine Stelle unter dem Meer zu schauen. Als das Dorfleben aufgrund der Grubenschließung fast zum Stillstand gekommen ist, wollte TJ Ballantyne im Meer Selbstmord begehen. Nur Marra hielt ihn am Leben. Er machte weiter, schenkt Bier aus; hörte sich die Sorgen und Nöte der Dorfbewohner an.
In dem Grubendorf werden 2015/16 die ersten Häuser verkauft. Die Nachbarn sind misstrauisch. Wer kauft denn in so einer heruntergekommenen und gottverlassenen Gegend ein Haus? Ein Bus voller Flüchtlinge aus Syrien kommt ins Dorf: Familien und Frauen mit ihren Kindern. Die Dorfbewohner möchten sie vom ersten Moment an loswerden und zeigen offen ihre Fremdenfeindlichkeit.
Der Traum: Als Fotografin um die Welt reisen
Im Bus sitzt auch die junge Syrerin Yara, gespielt von Ebla Mari. Ohne Kopftuch – eine ganz normale junge Frau. Sie spricht perfekt Englisch, sie hat es in den Flüchtlingscamps gelernt, und hilft beim Übersetzen. TJ Ballantyne hilft dabei, die Familie in die Häuser zu bringen.
Yara hat von ihrem Vater einen Fotoapparat geschenkt bekommen, weil sie Fotografin werden und um die Welt reisen wollte. Ihr Vater arbeitete als Schneider in Syrien. Eines Tages wurde er von den Truppen des damaligen Machthabers Baschar al-Assad verhaftet.
Sie stellt ihre Tasche mit der Kamera vor den Bus auf den Boden, um noch etwas zu holen. Da ergreift ein Dorfbewohner die Kamera. Er will die Bilder vernichten, droht den syrischen Flüchtlingen vom ersten Augenblick an. Er wirft die Kamera zu Boden. Sie ist kaputt, die junge Syrerin kann es nicht fassen. Hilfe bekommt sie von TJ Ballantyne. Sein Vater liebt es ebenfalls, zu fotografieren: die machtvollen Demonstrationen der Grubenarbeiter für mehr Geld und die Segnung durch die Kirche bei den Prozessionszügen in Durham. Die Fotos hängen an den Wänden im stillgelegten Festsaal des Pubs.
Vier Männer, Stammgäste, treffen sich immer wieder im Old Oak; unter ihnen auch der, der die Kamera zerstört hat. Die vier wollen den Nebenraum mieten und die syrischen Flüchtlinge aus dem Dorf vertreiben.
TJ Ballantyne zeigt Yara die Fotos seines Vaters. Die zwei stellen fest: „Wer gemeinsam isst, der bringt sich nicht um.“ Ballantyne bietet Yara zwei alte Kameras an. Sie möchte aber die Kamera von ihrem Vater behalten und erzählt vom syrischen Bürgerkrieg. Dann kommt Ballantyne auf die Idee, seine beiden Apparate zu verkaufen und von dem Geld Yaras Kamera reparieren zu lassen.
In der Not zeigen sich alle solidarisch
Immer wieder sieht man den Besitzer des Old Oak wie er bei der Verteilung gespendeter Sachen. Für die junge Syrerin und die Flüchtlingshilfe öffnet er den Saal. Die kleine Küche wird wieder hergerichtet und der Saal aufgeräumt. Ein Teil der Dorfbewohner hilft mit; die anderen stecken die Köpfe zusammen und überlegen, wie sie die ungeliebten Neubürger loswerden können.
Dreimal in der Woche wird dann im Saal für alle Dorfbewohner gekocht; da viele Kinder keine warme Mahlzeit bekommen. Ihre Eltern können entweder nur die Miete oder das Essen bezahlen. Das Angebot wird von allen sehr gut angenommen. Yara hat ihre Kamera wieder und fotografiert das Alltagsleben im Dorf. Sie freundet sich mit Eva an, auch wenn deren Mutter erst gar nicht begeistert ist. Die Fotos von ihrer Tochter und dem Dorf überzeugen alle.
TJ Ballantyne nimmt Yara mit bei seinen Touren, bei denen er Essen einsammelt. Sie ist ganz begeistert von der Kathedrale in Durham und dem Chor. Alles könnte gut sein, wenn nicht die Vier aus dem Pub, einen perfiden Plan aushecken würden. Sie sorgen für einen Wasserschaden, der die Elektrik im Festsaal zerstört.
Die Familie von Yara hofft, dass der Vater noch lebt. Angeblich hat ihn ein Bekannter im Gefängnis gesehen. Doch dann kommt die Todesnachricht. Das Hoffen und Bangen kennen die Dorfbewohner von den Grubenunglücken. Schlagartig zeigen sich alle solidarisch, spenden Trost mit Besuchen, Karten und vielen Blumen vor der Haustür. Im Festsaal zeigt Yara Fotos vom Bürgerkrieg in Syrien; ein Syrer spielt dazu auf der Laute. Fremde und Einheimische nähern sich nun langsam an.
Der Film erinnert an die Ankunft der Flüchtlinge aus Syrien und Afghanistan in Lindenfels. Auch hier gab es Akzeptanzprobleme, auch gegenüber den Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine, die im ehemaligen Luisenkrankenhaus in Lindenfels untergebracht wurden. In den Augen der Kinder konnte man die Angst vor Panzern, Schüssen und Bomben noch erkennen, vor allem, wenn mal wieder ein Feuerwerk abgebrannt wurde – beim Burgfest oder zum Jahreswechsel.
Schaut man ins Stadtarchiv, dann erfährt man, dass die Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg den in den Lindenfelser Hotels untergebrachten jüdischen Flüchtlingen auch nicht sehr wohlwollend begegnet ist. Heute arbeiten viele Ukrainerinnen in ortsansässigen Altenheimen, ihre gut ausgebildeten Männer in Firmen.
Diskutieren wollten die Zuschauer bem DGB-Filmabend nicht. Zu sehr traf Ken Loachs Film sie mitten ins Herz. Der Ortsverband Lautertal-Lindenfels will die Kino-Reihe fortführen, vielleicht im Sommer am Felsenmeer.
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