Einhausen. Die Kinder stehen in einer langen Reihe an der Turnhallenwand. Im Chor schallt es: „Stop! Lass mich in Ruhe!“ Dann folgen: ein gezielter Tritt und Faustschläge in die Pratze, ein schwarzes hartes Kunststoff-Schlagpolster, so groß wie ein Kind. Gehalten wird es von Anja Mokry, die mit ihrer Kollegin Tina Thinius an diesem Vormittag zu Gast bei den Ferienspielen der Gemeinde Einhausen ist. Beide leiten das Kinder-Training an der Wing-Tsun-Schule in Bürstadt. Maik Boehm vom Einhäuser Kinder- und Jugendtreff kennt die beiden über drei Ecken. Sie wollen den Unterrichts-Radius ihrer Schule erweitern. Er fand es eine gute Idee, den Einhäuser Ferienkindern die alte Kampfkunst vorzustellen, die die beiden vermitteln. 270 Jahre sei diese chinesische Art der Selbstverteidigung alt, gegründet worden sei sie von einer Shaolin-Nonne, erzählt Mokry. Sie berichtet auch vom deutschen Großmeister im Wing Tsun, Keith Kernspecht, der in Kiel zu Hause ist, mit Vertretern der Sportart in China in regelmäßigem Austausch steht und mit der Sportart als Kampfkunstlehrer, Unternehmer und Autor sein Geld verdient. Im nächsten Jahr werde er 80 Jahre alt und sei topfit, es sei eine Bereicherung, von ihm zu lernen, erzählt Mokry, die über ihren Sohn zum Wing Tsun kam.
Die Kraft des Gegners zur eigenen Verteidigung nutzen
Von ihr haben die 17 Kinder an diesem Vormittag den sicheren Stand als Grundposition und die ersten vier Bewegungsformen gelernt, mit denen sie sich im Ernstfall schnell und einfach verteidigen könnten, wenn sie von einem anderen Kind oder einem Erwachsenen angegriffen würden. Das Prinzip des Wing Tsun beruht darauf, die Kraft des Gegners durch verschiedene Bewegungen aus einem großen Repertoire umzuwandeln und gegen ihn zu verwenden. Noch wichtiger ist es aber, so vermittelt Anja Mokry, dass es erst gar nicht zu einem Angriff kommt, weil die Kinder selbstbewusst auftreten und ihre Umwelt bewusst wahrnehmen. Mit tief in den Hosentaschen vergrabenen Händen und dem Blick auf dem Smartphone böten diese sich möglichen Angreifern als Opfer an. Mokry und Thinius gehen mit diesen Themen auch in Schulen, etwa mit Anti-Mobbing-Workshops.
Die Kinder an der Turnhallenwand setzen die Übung an der Pratze mit sehr unterschiedlichem Temperament um. Bei manchen wirken die mündliche Vorwarnung, Tritt und Faustschläge noch eingelernt, bei anderen scheint die Abfolge aus dem Inneren zu kommen. Oder von Vorbildern. „Ich hab die ganzen Ip-Man-Filme geguckt“, erzählt der achtjährige Noah begeistert und noch ganz außer Atem, nachdem er eine Faustschlag-Salve auf die Pratze hat donnern lassen. „Der boxt auch in Lorsch“, lässt sein Nachbar anerkennend wissen.
Als Nächstes versucht Noah, seinen imaginären Gegner durch einen Sprung gegen die Pratze außer Gefecht zu setzen. „Das sieht toll aus. Aber der braucht nur einen Schritt zur Seite zu gehen, und du liegst vor ihm auf dem Boden“, verdeutlicht Tina Thinius. Und dann gibt sie Noah das mit, was den Kern der Philosophie des Wing Tsun beschreibt: „Egal in welcher Situation: Du darfst niemals deinen sicheren Stand aufgeben.“
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