Insgesamt 15 junge Mädchen düsen durch die Sporthalle in Einhausen. Zu Fuß bewegt sich jedoch keine der sieben bis 15 Jahre alten Sportlerinnen. Dafür sieht das Manövrieren auf dem Einrad umso spielend leichter aus. Die letzten Nachzüglerinnen kommen bereits auf dem Rad aus der Umkleidekabine geflitzt und sammeln sich bei ihren Vereinskolleginnen. Sie lachen laut durcheinander, während sie dabei vorwärts und rückwärts fahren oder sich Hand in Hand im Kreis bewegen.
Die beiden Trainer vom Einhäuser Radfahrerverein 1926, Thorsten Forell und Thomas Kohlen, haben immer einen Blick auf das Geschehen und achten darauf, dass sich niemand verletzt, während sie in der Mitte der Halle eine Absperrung aufbauen. Streng genommen findet das gesamte Geschehen auf einem Drittel der Halle statt. Auf der anderen Seite des großen Trennvorhangs wird eifrig Tischtennis gespielt.
„Wir haben im Lauf des letzten Jahres sehr viel Zuwachs bekommen“ sagt Thorsten Forell. Vor Beginn der Corona-Pandemie war die Mitgliederanzahl ziemlich geschrumpft, nur wenige Kinder und Jugendliche konnten sich noch für das Kunstradfahren begeistern. „Also haben wir einen Flyer gestaltet, auf Pfarrfesten Werbung gemacht, die mit kleinen Vorführungen angereichert wurden, und siehe da: Es gab großes Interesse daran den Sport zu betreiben.“
Mit einer Handvoll Einrädern zum Ausprobieren wurde die Werbeaktion für den Verein auch direkt interaktiv. „Klar, wenn man das ausprobieren kann, macht es natürlich direkt noch mal mehr Spaß.“ Ob das wirklich so ist, wird sich im Laufe des Abends noch zeigen. Vorerst gehört der Boden der Sporthalle der Jugend.
Zweimal die Woche trainiert der Radfahrerverein. Mittwochs und freitags von 17 bis 19 Uhr. „Die meisten hier haben irgendwann zwischen Juli und November 2021 angefangen“, erklärt Thorsten Forell während die Kinder weiterhin auf den Einrädern quer durch die Halle flitzen. Schwer vorzustellen, dass viele noch kein Jahr auf dem Rad sitzen und sich dennoch damit fortbewegen, als hätten sie noch nie etwas anderes getan. Auf die Frage, ob man pauschal sagen kann, wie schwer es ist, das Einradfahren zu erlernen, muss Thorsten Forell erst einmal lachen. „Ist ja immer schwer zu sagen. Ich behaupte jetzt einfach mal: Je älter man ist, desto schwieriger wird es. Die Angst zu stürzen ist bei Erwachsenen einfach größer. Kinder steigen einfach auf und fahren los, ohne sich zu fragen, was alles passieren könnte.“
Doch Angst ist auch bei den Kindern und Jugendlichen ein Thema. Klar. Wenn man auf dem Sattel eines Kunstrades einen Kopfstand macht, während dieses unbeirrt weiterfährt, kommt man um den Gedanken, was alles passieren könnte, vermutlich nicht herum. Gerade, wenn dann bereits wirklich schon mal etwas passiert ist. „Nach einem Sturz ist es wichtig, dass wir als Trainer die Kinder aufbauen. Nach einem Sturz versuchen wir, die Angst zu nehmen, vor einem Wettbewerb die Anspannung zu verringern.“
Mehrere Kreismeistertitel 2022
Zuletzt standen die Kreismeisterschaften 2022 als großer Wettbewerb auf dem Terminplan. Die Veranstaltung, bei der rund 40 Sportler antraten, fand dieses Jahr in Einhausen statt. Jedoch aufgrund der Pandemie ohne Zuschauer. Der Radverein Einhausen konnte dabei einige Kreismeistertitel nach Hause fahren, zum Beispiel in den Klassen U13 und U15 der Einrad-Vierer oder bei den Kunstrad-Juniorinnen.
Ein Kunstradwettbewerb läuft dabei nach folgendem Prinzip. In einer vorgegebenen Zeit muss eine bestimmte Anzahl verschiedener Übungen gefahren werden. Eine Fachjury beurteilt die Ausführung der einzelnen Kunststücke und bewertet den Lauf am Ende. Beispielsweise führen die Teilnehmer auf dem Einrad 25 Kunststücke innerhalb von fünf Minuten vor. Die Wertungsrichter achten unter anderem auf eine saubere Ausführung und eine wackelfreie Haltung auf dem Einrad – also aufrecht sitzend und die Arme gerade nach links und rechts vom Körper weggestreckt. Wichtig ist auch, dass eine vollständige Runde absolviert wird.
Der Lauf und die Abfolge der Kunststücke werden dabei vorher im Training geübt und verinnerlicht. Bei Vierer-Gruppen kommt zusätzlich noch die Komponente der Zusammenarbeit ins Spiel. Hand in Hand trainieren vier Einrad-Fahrerinnen nebeneinander einen Kreis zu fahren, Rücken an Rücken zu gelangen und sich dann wieder zu trennen. Gar nicht so einfach, wenn man dabei noch auf die anderen Teilnehmerinnen achten muss. Um ein Gespür für solche Situationen zu trainieren, lässt Trainer Thomas Kohlen an beiden Enden der Halle Fahrerinnen in einer Kette nebeneinander aufstellen. Die Aufgabe klingt einfach: Nehmt euch an der Hand, die zwei Ketten fahren aufeinander zu, Hände loslassen, aneinander vorbei fahren und zur gegenüberliegenden Wand gelangen. Lautes Gelächter, Stürze und schnelles wieder aufrappeln bleiben bei dieser Übung allerdings nicht aus.
Im Training haben die jungen Sportlerinnen die Möglichkeit beide Disziplinen auszuprobieren, Einrad und Kunstrad. „Mit dem Einrad wird aber angefangen. Das muss jeder bei uns als Erstes fahren lernen. Danach kann man individuell schauen, wer für welche Disziplin geeignet ist.“
Ein Kunstrad erinnert von der Form an ein Fahrrad, wie man es kennt, ist jedoch auf die wesentlichen Aspekte reduziert. Bremse, Licht oder Gangschaltung sucht man vergeblich. Der Sattel ist groß und breit, um genügend Platz für Fahrmanöver, wie einen Kopfstand zu bieten. Der Lenker ist breit und gerade, die Griffe sind geschwungen. So bieten sie guten Halt, um darauf in einen Handstand zu gehen oder die Füße darauf abzulegen, beziehungsweise sich einfach komplett darauf zu stellen. Generell gilt es, alles zu vergessen, was man über die Fortbewegung mit einem Fahrrad gelernt. Zwei Räder auf dem Boden, im Sattel sitzend, die Hände am Lenker und nach vorne fahren ist eine Haltung, die man auf dem Kunstrad nur selten sehen wird. Stattdessen ermöglichen es kleine Tritte an den Radachsen, auf dem fahrenden Rad umher zu klettern und Tricks auszuführen.
Mittlerweile sind auch die ersten Kunsträder unterwegs und die Fahrerinnen des RV Einhausen zeigen, was sich mit so einem Rad alles anstellen lässt. Beispielsweise mit beiden Füßen auf einem Pedal zu stehen und sich durch schwingende Körperbewegungen fortzubewegen oder mit einem Fuß auf dem Sattel zu balancieren.
Manche Sportlerinnen haben ihr eigenes Einrad mitgebracht, jedoch nutzen viele den hauseigenen Fuhrpark des Vereins. Thorsten Forell zeigt in einem kleinen Nebenraum der Sporthalle, welche Räder zur Verfügung stehen. Dort hängen viele Kunsträder in unterschiedlichen Rahmen- und Reifengrößen an der Wand, Einräder hängen von der Decke. „Da ist für jeden das passende Rad zu finden, so dass man sich erstmal kein eigenes kaufen muss.“ Das ist auch gut so, sonderlich günstig schlagen die Sportgeräte nämlich nicht zu Buche. „Zwischen 2600 und 2800 Euro muss man für so ein Kunstrad schon hinlegen.“
Um die Kunststücke auf dem Rad zu üben, ohne direkt in das Risiko zu laufen gleich zu Beginn zu stürzen, finden sich einige Trainingsgeräte in der Halle, die dabei helfen können. Zum Beispiel ein Halter für die Räder, eine Art Rollator, um das Gleichgewicht halten zu können, ein Brett, auf das ein Sattel und ein Lenker geschraubt wurden, um die Balance-Akte ohne das Hindernis der sich drehenden Reifen zu üben.
Letzten Endes hilft jedoch alles Beobachten nichts. Man kann es am Ende nur auf dem Rad lernen. Nachdem man die Sportler des RV Einhausen für eine gute Stunde beobachtet hat, hat sich auch der trügerische Gedanke eingeschlichen, der eingebildet behauptet: „Das kann ich auch.“ Thorsten Forell rollt ein etwas größeres Kunstrad aus dem Anbau. Die Zeit für große Worte ist vorbei, Taten sind gefordert.
Ein Unterschied zu einem handelsüblichen Fahrrad fällt direkt nach dem Aufsteigen auf: Drehen sich die Räder, drehen sich die Pedale. Es gibt keinen Weg die Füße still auf den Pedalen zu halten, während das Rad sich dreht. Jedoch kann man dadurch die Räder anhalten und Bremsen, was schon mal zu Beginn ein Gefühl von Sicherheit gibt. Im Stand erklärt der Trainer noch ein paar einsteigerfreundliche Positionen, die sich gut ausüben lassen. Den linken Fuß auf dem Tritt an der Vorderachse, den rechten auf den der Hinterachse stellen und dann die Beine durchdrücken, um über dem Sattel zu stehen. Im Stehen und während jemand das Rad hält, ist das Ganze auch relativ einfach. Während das Rad sich jedoch bewegt und im Kreis gelenkt werden will, sieht die Sache etwas anders aus. Alles konzentriert sich darauf, die Füße sicher an die Achsen zu bringen, ohne dass die Fußspitze zu weit rutscht und die Speichen der Räder blockiert. Da kann man auch mal schnell vergessen, dass sich die Pedale immer weiterdrehen, wenn die Räder in Bewegung sind. Doch nach anfänglichen Schwierigkeiten gelingt es und die Füße stehen dort, wo sie hingehören.
Die zweite Position fühlt sich dann schon direkt etwas mehr nach Kunstradfahren an. Beide Füße stehen auf der hinteren Achse, die Hände befinden sich am Lenker. Und dann gilt es nur noch vorsichtig ein Bein zu heben und gerade von sich zu strecken. Turnen auf dem Rad. Es muss sicher so ungelenk aussehen, wie es sich anfühlt. Auf dem Papier wurde die Position zwar erreicht, in der Haltungsnote gibt das jedoch sicherlich Abzüge. Aber der Stolz, beide Positionen sicher erreicht und wieder verlassen zu haben, ist vorhanden. Auch, wenn ein Blick auf die die umherfahrenden Vereinsmitglieder direkt wieder Demut aufkommen lässt, wenn sie sich beispielsweise problemlos auf ihr Rad schwingen, um den Sattel dann augenblicklich zu verlassen.
„Eigentlich ganz einfach“
Mit einem leichten Grinsen auf dem Gesicht holt Thorsten Forell jetzt ein Einrad aus dem Nebenraum. „Eigentlich ist es ganz einfach. Den Sattel zwischen die Beine klemmen, das Rad vor dem Körper auf dem Boden positionieren, in die Pedale treten und es richtet sich von allein auf.“ Es sieht bei ihm auch so aus, als sei es „eigentlich ganz einfach“, wenn er sich auf das Rad schwingt und darauf balancierend scheinbar mühelos vor und zurück fährt. Doch die Realität eines blutigen Anfängers ist eine völlig andere. Ja, das Rad stellt sich von allein auf, wenn man in die Pedale tritt. Darauf sitzenzubleiben und zu balancieren, ist jedoch eine völlig andere Geschichte. Auch mit einer Hand an der Sprossenwand ist es alles andere als einfach, die Balance zu halten. Genauso schnell, wie das Rad sich aufrichtete, geht es auch wieder in Richtung Boden. Einradfahren braucht wohl doch etwas mehr Übung als eine Stippvisite beim RV-Training. Die Vereinsmitglieder flitzen derweil unbeirrt weiter auf dem Einrad durch die Halle, als wäre es das normalste und einfachste Fortbewegungsmittel der Welt.
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