Bensheim. Was soll man noch groß sagen? Bald ist Weihnachten, daran ändern auch Inflation, Energiekrise, russischer Angriffskrieg und ein Hauch Corona-Pandemie nichts. In Bensheim soll es aus Spargründen nicht ganz so ausufernd funkeln wie gewohnt, aber den Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz (früher bekanntlich in aller Bescheidenheit als Riesentanne beworben) braucht es als Leuchtfeuer gegen das Dunkele in der Welt schon noch. Hat schließlich auch in Mittelerde mehr oder weniger funktioniert, die Orks und Elfen unter uns erinnern sich.
Allerdings soll das grüne Gehölz knapp unter den üblichen Gardemaßen von 20 Meter plus bleiben. Was aber nicht bedeutet, eine mickrige Hobbit-Variante (um letztmals Anleihen bei Tolkien zu nehmen) ins Herz der Innenstadt zu verpflanzen.
Chefarzt am Kreiskrankenhaus
Und minderwertiger als die zwölf Meter hohe Nordmanntanne in Lorsch? Mitnichten, man hat ja einen Ruf zu verlieren. So begab es sich am Freitagmittag, dass die routinierte Truppe um Agrartechniker Norbert Emig aus Kocherbach und der Kranfirma Weiland in der Arnauer Straße aufschlug.
Dort stand das Objekt der Begierde an einer schrägen Hauszufahrt und überzeugte mit schlankem, geraden Wuchs und einer Höhe, die trotz allem an die guten alten Zeiten erinnerte, als die Bäume in Bensheim noch gefühlt in den Himmel wuchsen.
Gespendet wurde es von Dr. Leopold Mihaljevic und seiner Frau Ruth. Der langjährige Chefarzt der Chirurgie am Kreiskrankenhaus in Heppenheim hatte den Baum 1988 gepflanzt, als die Familie aus Mühltal nach Bensheim zog. 1965 war der Mediziner nach Darmstadt gekommen, verbrachte dort 17 Jahre am städtischen Klinikum, wo der gebürtige Jugoslawe das deutsche Staatsexamen und seine deutsche Doktorarbeit abschloss. In dieser Zeit lernte er auch seine Frau kennen. Das Paar hat zwei Söhne.
Anfang der 1980er Jahre wechselte Mihaljevic ans Kreiskrankenhaus und führte dort 1990 als einer der ersten Chirurgen endoskopische Operationen, die sogenannte „Schlüssellochchirurgie“, ein. 2009 zeichnete ihn der Kreis Bergstraße mit der Ehrenplakette für seine Lebensleistung aus.
In Bensheim blieb die Familie auch wohnen, als der Chefarzt in Ruhestand ging, schließlich hatte man dort ebenso Wurzeln geschlagen wie der Baum. Der wiederum war, als er in die Erde kam, um die zwei Meter groß. „Mittlerweile ist er uns über den Kopf gewachsen“, bemerkte Ruth Mihaljevic.
Beim Abschied vom grünen Weggefährten am Freitag schwang viel Wehmut mit, die Trennung fiel nicht leicht. „Es war immer unser Weihnachtsbaum“, erzählte die Besitzerin. Ihr Mann sei in der Adventszeit mit Lichterketten ausgestattet in die Äste gestiegen und habe mit viel Geduld den Baum geschmückt. Als das Exemplar immer stattlicher wurde, half ein Nachbar mit. Viele schöne Erinnerungen verbinde man damit. „Er wird uns fehlen.“
Nur: Mit der Zeit wurde die Pflege immer beschwerlicher, außerdem verursacht das weitläufige Wurzelwerk Schäden. Im Frühjahr meldete sich Ruth Mihaljevic beim Verein Stadtmarketing, der das Gehölz begutachtete und zunächst als schön, aber zu schlank bewertete. Für den Marktplatz sollte es etwas Stämmigeres sein.
Das Angebot blieb allerdings bestehen und auf der Liste. Im Oktober erhielt die Familie schließlich einen Anruf, dass man nun doch auf den Baum zurückgreifen wolle. Die schlanke Gestalt passt in Zeiten der Energiekrise besser ins Konzept, weil nicht ganz so viele LED dafür benötigt werden.
„Wenn er schon weg muss, dann soll er wenigstens im Lichterglanz auf dem Marktplatz sterben“, betonte Ruth Mihaljevic. Dort kann sie ihn immerhin in den nächsten Wochen bei Bedarf täglich bewundern. Für das Spezialistenteam erwies sich die diesjährige Wahl auch als Glücksfall. Keine großen Hindernisse im Weg, die Straße direkt vor der Nase und ein leichter Zugang: Selten dürfte in den vergangenen Jahren ein Bensheimer Weihnachtsbaum schneller am Haken des Krans gezappelt haben, nachdem Norbert Emig und Moritz Betz die Motorsäge hatten sprechen lassen.
Ein eingespieltes Team
Ohnehin zeigte sich, wie eingespielt die Mitwirkenden sind. Während Betz den Baum bezwang, um die Sicherung zu übernehmen („aus dem Alter bin ich raus“, kommentierte Emig), ging der Weiland-Kran in Stellung und hievte die tonnenschwere Fracht punktgenau auf den Tieflader.
Den Nachmittag über galt es, die Äste zu einem handfesten Paket zu verschnüren, um beim Abtransport möglichst geschmeidig die Kurve zu kriegen.
Am Abend sollte der grüne Gigant schließlich pünktlich zu einem Date mit dem Marktplatz kommen, wie immer eskortiert von Polizei, THW, Stadtpolizei, Kran-Mannschaft und Feuerwehr. Bis zur Eröffnung des Weihnachtsmarktes am Donnerstag, 24. November, wird das gute Stück noch mit seinem Lichterkleid versehen. Bislang waren es um die 30 000 LED, in diesem Jahr möchte man ein paar Dioden einsparen. Wie viele es letztlich sein werden, muss sich zeigen.
Immerhin können die Bensheimer, trotz aller kleinen und großen Krisen, die 2007 begonnene Tradition fortsetzen. In diesem Jahr übrigens mit einer Nordmanntanne – ein Klassiker, so Norbert Emig, der die jährliche Mission routiniert über die Bühne brachte. Nur das Wetter hätte nicht ganz so trist wie eine Lesung des städtischen Haushaltsplans sein müssen. Aber selbst in Bensheim kann es nicht immer nur eitel Sonnenschein geben.
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