Bensheim. Den letzten Tagen mehr Leben geben, nicht dem Leben mehr Tage: Der Leitsatz von Cicely Saunders, der Begründerin der modernen Hospiz- und Palliativbewegung, beschreibt die Grundidee einer humanen Sterbebegleitung. Sie soll Menschen eine würdevolle letzte Lebensphase ermöglichen. Doch was bedeutet gutes Sterben wirklich und konkret? Darüber sprachen jetzt zwei Expertinnen bei der zweiten Veranstaltung Winterakademie Bensheim in der evangelischen Stephanusgemeinde.
Der Dialog zwischen Soziologin Swantje Goebel vom Bensheimer Hospiz-Verein und Pfarrerin Sylvia Richter, Hospizseelsorgerin in Darmstadt, war eine vielperspektivische Annäherung an ein Thema, das in der Gesellschaft immer weniger tabuisiert wird.
Der Tod ist eine öffentliche Angelegenheit geworden. Man spricht darüber. „Selbstbestimmtes Leben – selbstbestimmter Tod“ lautete die Überschrift der gut besuchten Gesprächsrunde, die genügend Raum für tiefergehende Fragen und Anmerkungen ließ. Pfarrer Lukas von Nordheim und Tobias Dienst – beide aus der Auerbacher Kirchengemeinde – moderierten den Abend, an dem es über die Freiheit des Todes und die Akzeptanz des Sterbens ging. Dabei wurden neben medizinischen und ethischen auch spirituelle Aspekte angesprochen.
Swantje Goebel forscht und publiziert seit über 20 Jahren zu Hospizarbeit und Palliative Care, insbesondere zu hospizlichem Ehrenamt und Fragen der Betreuungsqualität am Lebensende. Die Wissenschaftlerin ist zweite Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Patientenwürde und leitet das Akademieteam des Hospiz-Vereins Bergstraße. Sie widmete sich zunächst dem zentralen Imperativ des modernen Menschen, der lautet: Du musst dein Leben selbst gestalten! Und dieser gilt heute bis zum letzten Atemzug. Der Tod ist kein Schicksal mehr, sondern eine Frage der Optionen. Der Sterbende wird zum Kunden, der sich den Ort und die Art seines Ablebens mehr oder weniger selbst aussuchen kann.
Die Begriffe „Würde“ und „Selbstbestimmung“ spielen dabei eine tragende Rolle: Jeder will beides, doch die Definition ist alles andere als einfach. Vor allem bei der Selbstbestimmung. Die Sterbehilfebewegung würde argumentieren, dass man den Endpunkt selbst bestimmen kann, während die Hospizbewegung unter individueller Autonomie einen Abschied möglichst frei von Schmerzen in einem intakten sozialen und harmonischen Umfeld versteht.
„Ich entscheide selbst“
Generell kann man vorausschicken: Das Sterben ist zu einer eigenen Lebensphase geworden, die es gesellschaftlich zu gestalten gilt. Der Sterbende ist kaum noch Teil einer großen Familie, sondern selbst für seinen Abschied verantwortlich. „Wir leben in einer individualisierten Zeit mit allen Freiheiten und einer hohen Lebenserwartung“, so die Soziologin. Selbstbestimmung ist ein kollektiver Wert und eine persönliche Zielsetzung auch zum Finale der eigenen Biografie: „Ich entscheide selbst!“ Und das habe weniger mit Säkularisierung, also der Verabschiedung von einer Götterwelt zu tun, als vielmehr mit dem Prozess der Individualisierung an sich.
Dies alles verändere die Vorstellung vom Tod, so Swantje Goebel. Dennoch sei ein autarkes Sterben eher ein hohes Ideal denn harte Realität. Und laut Sylvia Richter ist das auch überhaupt nicht zu bemängeln: „Wir müssen akzeptieren, Hilfe anzunehmen und unser Leben in andere Hände zu geben“, spricht die Pfarrerin auch den christlichen Aspekt des Todes an. Es gehe dabei nicht nur um den göttlichen Willen, sondern auch um die Begleitung Dritter in den letzten Phasen der Existenz.
Nichts anderes passiere in einem Hospiz. Richter warnt davor, die Freiheitsanspruch im Kontext persönliche Autonomie als Wert zu überhöhen: „Man muss loslassen können. Manch einer muss das erst noch lernen.“
Die Idee, dass die Abhängigkeit von anderen Menschen, die einen zum Beispiel pflegen, etwas Negatives darstellt, sei eine bedenkliche gesellschaftliche Entwicklung, so die Theologin. Also die Angst, anderen „zur Last zu fallen“, und die Inanspruchnahme von Hilfe als Makel zu verstehen. Man vergesse dabei gern, dass man eigentlich niemals in seinem Leben so frei ist, wie man dies für sein Lebensende einfordert. Auch und gerade in einem Hospiz werde deutlich, dass der Mensch auf andere angewiesen ist. Richter kann darin nichts Schlechtes erkennen.
Etwas einfacher verhält es sich mit der Menschenwürde, die ja bereits im Grundgesetz verankert ist. Dieser Begriff umfasst auch die Selbstbestimmung, geht aber weit über diesen Punkt hinaus und ist auch im christlichen Glauben verortet, so die Hospizseelsorgerin. Bei der Palliativmedizin (sie zielt auf die Linderung von Leiden) geht es darum, die Lebensqualität der schwerkranken Menschen zu verbessern – und zwar körperlich, psychisch wie auch auf spiritueller Ebene in seelsorgerischer Absicht. Deshalb sind Palliativstationen auch keine Sterbestationen, sondern besondere Einrichtungen mit dem Schwerpunkt, das Leben mit unheilbaren Krankheiten lebenswert zu machen.
Die Schmerzen sind beherrschbar
In der Regel haben die Menschen vor allem Angst vor Schmerzen, doch die sind in den allermeisten Fällen gut beherrschbar, wenn sie richtig behandelt werden, so Sylvia Richter. „Wir wollen immer den Grund wissen, warum ein Mensch nicht mehr leben will.“
Oftmals lasse sich dieser Wunsch dann im Gespräch erheblich relativieren. Auch die Sorge vor einem leidvollen Ende voller Schmerzen sei bei den meisten Menschen weniger ausprägt als die Angst vor dem Verlust von Würde und Autonomie, zitiert Swantje Goebel aus einer Studie.
Erst die Hospizbewegung - Ende der 1960er Jahre von England ausgehend - habe in Deutschland Antworten zu elementaren Fragen gegeben. Die beiden Referenten erkennen in ihr eine gesellschaftspolitische Kraft, die Tod und Sterben als integrativen Teil des Lebens betonen. Dabei gehe es um ein würdevolles Sterben in einem geborgenen Umfeld – quasi als institutionalisierte Alternative der einstigen Großfamilie. Von einer aktiven Sterbehilfe distanziert sich die Bewegung ausdrücklich.
Die Erfahrungen der Hospizbewegung zeigen, dass in Fällen mit einer erfolgreichen Schmerztherapie und angemessener psycho-sozialer Begleitung der Wunsch nach einer Tötung in den Hintergrund tritt oder ganz verschwindet, so Richter. Die Zeit des Sterbens soll weder künstlich verlängert noch verkürzt werden. Eine lebensbejahende Grundhaltung schließe einen assistierten Suizid aus. Die Hospiz-Idee betrachtet den Menschen als Ganzheit mit körperlichen, seelischen und spirituellen Bedürfnissen.
Dennoch verschwimmen die Grenzen: Palliativmedizin schließt auch die sogenannte indirekte Sterbehilfe und den gerechtfertigten Behandlungsabbruch ein. „Passiv“ bedeutet hier, dass man in Kauf nimmt, dass eine schmerzlindernde oder bewusstseinsdämpfende Behandlung den Todeseintritt beschleunigen kann. Das ist legal und gilt als moralisch akzeptabel. Auch seitens der Kirchen.
"Glaube in der Medizin" Die Bensheimer Winterakademie ist eine ...
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