Bensheim. Wolfgang Kessler wurde in der katholischen Jugend sozialisiert. Das klinge rückblickend wenig reißerisch für einen Journalisten mit wirtschaftlichem Schwerpunkt, betont er. Doch er sei dankbar, damals die ethischen Grundlagen für seine spätere publizistische Arbeit mitbekommen zu haben, so Kessler, der in Konstanz, Bristol und London Wirtschaftswissenschaften studiert hat.
Bereits während des Studiums engagierte er sich bei Amnesty International. Nach seiner Promotion arbeitete er ein Jahr beim Internationalen Währungsfonds. „Dort regiert eine Ethik des Kapitalismus“, so der Autor und Vortragsredner bei seinem Besuch in Bensheim.
Krisen wirken als Brennglas
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Bereits am Vormittag hatte er an der Karl-Kübel-Schule vor Schülern gesprochen. Am Dienstagabend referierte er auf Einladung von Attac Bergstraße in Kooperation mit dem BUND Bensheim, der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sowie dem deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Bergstraße über seine Idee eines gerechten Wirtschaftssystems auf ethischen Grundlagen. Schulleiter Michael Steffan und Dieter Riedel von Attac Bergstraße begrüßten rund 40 Zuhörer im Multimax auf dem Campus des Beruflichen Schulzentrums.
Der ehemalige Ressortleiter und Chefredakteur der kirchlich-religiösen Zeitschrift „Publik-Forum“ ist in einer oberschwäbischen Kleinunternehmerfamilie aufgewachsen und kommentiert seine Erfahrungen als promovierter Währungsexperte beim Internationalen Währungsfonds als ernüchternd. Es sei dort um Hungerkuren für die Dritte Welt gegangen, was mit seinen christlichen Idealen nicht vereinbar gewesen sei.
Als Journalist verfolgt er seither seinen Traum einer Wirtschaft, die den Menschen dienen soll und nicht destruktiv beziehungsweise ausgrenzend wirke. Dies sei umso wichtiger in einer Zeit, in der Krisen die Lücken im ökonomischen System wie ein Brennglas verdeutlicht hätten: Es regierten Armut, Pflegenotstand, Lohndumping und ein schädlicher Kapitalismus. Megakonzerne und Großinvestoren erobern Innenstädte, übernehmen Krankenhäuser und Pflegeheime. „Der rasende globale Kapitalismus bedroht Mensch, Demokratie, Natur und Klima.“
Wirtschaft und Konsum müssen grundlegend verändert werden, betonte Wolfgang Kessler in Bensheim. Die Kunst sei es nun, am offenen Herzen des kapitalistischen Systems so zu operieren, dass die Folgen für Mensch und Natur auf der ganzen Welt spürbar seien, so der Redner, der 2007 mit dem Bremer Friedenspreis ausgezeichnet wurde. Im April 2021 erschien sein Grundlagenbuch „Macht Wirtschaft! Ökonomie verstehen und verändern“ – die Grundlage für seine Thesen, die getragen sind von seinem christlichen Glauben und der daraus resultierenden Überzeugung, dass eine humane Perspektive und ein gutes Leben für alle erstrebenswert und auch erreichbar seien.
Für den Wirtschaftspublizisten ist klar: „Diese Form des Kapitalismus muss grundlegend verändert werden. Aber das ist leichter gesagt als getan.“ Auch Kritiker müssten zugeben, dass es einfach umsetzbare Alternativen nicht gibt. Er plädiert daher nicht für eine Abschaffung des Kapitalismus, sondern gleichsam für eine Zähmung der aktuellen Wirtschaftsordnung. Doch der Wandel zu einem fairen Modell sei nicht einfach: Die Angst vor weniger Konsum und eine grundsätzliche Skepsis vor allem Neuen müssten überwunden werden.
„Wir leben in einer Übergangsgesellschaft. Immer mehr Menschen erkennen die Grenzen des Wachstums“, betont er. Ein „Weiter so“ könne es im Kontext von Klimakrise, Energiekrise und dem Anspruch einer ökologischen Wende nicht geben. Die Abkehr von fossilen Ressourcen wie Öl, Kohle und Gas zeige jetzt, auf welch brüchigen Säulen der deutsche Wohlstand aufgebaut sei.
Der freie Markt allein könne eine Umstellung aber nicht leisten, da er Innovation stets nur in bestehenden Strukturen erlaube und fördere – nicht aber beim Wechsel zu etwas völlig Neuem. Zudem sei der Markt an sich frei von jeder Ethik, das System „denke“ nicht auf moralischen Prinzipien. Eine Veränderung könne nur gelingen, wenn sie von oben gesteuert werde: durch Anreize, Verbote oder Fördermaßnahmen.
Beispielhaft für erfolgreiche Strategien dieser Art seien der Siegeszug der LED-Technik durch das Verbot der klassischen Glühbirne und das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG), das nach seiner Einführung ab dem Jahr 2000 zu einem Boom von Sonnen- und Windenergie geführt hatte.
Kessler skizzierte fünf konkrete Reformmaßnahmen, die den Kapitalismus in andere Bahnen lenken könnten. Als Grundlage nannte er eine Ethik, die Wirtschaften dem Gemeinwohl verpflichtet, und die Feststellung, dass Wachstum endlich ist. Es gehe darum, ökonomische Anreize so zu setzen, dass erwünschtes Verhalten begünstigt und unerwünschtes sanktioniert wird. Dies habe den Vorteil, dass man nicht den Menschen verändern müsse, sondern die Strukturen, in denen er lebt. Ein Blick über den nationalen Tellerrand zeige, dass es möglich ist, zumindest ansatzweise.
Beispiel: die Übergewinnsteuer. In Großbritannien wurden die Abgaben für Öl- und Gasunternehmen eingeführt und sukzessive erhöht. Der Steuersatz wird in den kommenden Jahren von 25 auf 35 Prozent angehoben. Wenn Energiekonzerne wegen des Kriegs in der Ukraine riesige Gewinne machen, so Kessler, dann müsse man diese „zufälligen“ Einkünfte zum Wohle der Allgemeinheit nutzen.
Allein 2022 hatte London dadurch rund sieben Milliarden Euro als Finanzhilfe in einkommensschwache Haushalte umverteilt. Das Argument: Der Öl- und Gassektor erzielt momentan außergewöhnliche Gewinne – und das nicht durch Risikobereitschaft, Innovation oder Effizienz, sondern als Ergebnis der steigenden globalen Rohstoffpreise, die teilweise durch den Krieg in Russland in die Höhe getrieben wurden. Auch in Italien müssen Energiefirmen, die in der Krise ihre Gewinne über die Maßen steigern konnten, einen großen Teil des Geldes abgeben.
Die Abgabe greift, wenn die Einnahmen im Energiebereich mindestens zehn Prozent über dem durchschnittlichen Niveau der Jahre 2018 bis 2021 liegen. Der maximale Steuerbetrag soll dabei nicht höher liegen als 25 Prozent der Nettovermögenswerte der Unternehmen zum Ende des Jahres 2021 – es soll also maximal ein Viertel der Vermögenswerte der betroffenen Firmen abgeschöpft werden. Zehn bis elf Milliarden Euro wollte Italien mit der Übergewinnsteuer einnehmen – und damit Hilfspakete finanzieren. Die Energieriesen zogen vor Gericht, weil sie nicht zahlen wollten. In Deutschland ist noch nicht ausgemacht, wie hoch die Einnahmen aus der Übergewinnsteuer ausfallen werden. Die Einführung lahmt. Rechtlich sei das möglich, so der Autor, doch am politischen Willen mangele es.
„Eine gerechtere Welt ist möglich“
Am Beispiel Österreich erläuterte Kessler, wie man das Gesundheitssystem und die medizinische Versorgung öffentlich organisieren kann. Die gesetzliche Krankenversicherung sei Pflicht, eine „Flucht“ in private Versicherungen nicht grundsätzlich möglich. Eine solidarische Finanzierung sichere – unabhängig von Einkommen, Alter, Geschlecht oder Herkunft – den gerechten Zugang zu Gesundheitsleistungen. „Nettolöhne sind höher, Lohnnebenkosten geringer“, betont der Journalist einen doppelten Benefit für Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Nächstes Beispiel: Die Niederlande will bis 2050 eine Kreislaufwirtschaft ohne Abfall realisieren. Alle Konsumgüter sollen recycelt werden. Auch dieses Modell sei prinzipiell auf Deutschland übertragbar.
Fazit des Redners: Soziale, menschenfreundliche und ökologische Kriterien müssen ins Wirtschaftssystem integriert werden, ohne es als Ganzes abschaffen zu müssen. „Eine gerechtere Welt ist möglich“, so Wolfgang Kessler.
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