Bensheim. Angst, dass das Glas Wein oder Bier während der Vorstellung keine Freude mehr macht, muss man nicht haben. Zwar setzt sich das neue Stück des Vornerum-Theaters, das am Donnerstagabend im Pipapo-Keller Premiere hatte, mit der Problematik von Alkohol als Droge auseinander, doch beleuchtet es dessen viele Facetten ohne erhobenen Zeigefinger – aber auch, ohne etwas zu beschönigen.
„Intervention“ von Rebekka Kricheldorf ist jedoch nicht nur ein Stück über Drogen, sondern auch eines über unterschiedliche Lebensentwürfe. Und nicht zuletzt ist es auch ein Stück über die Freundschaft und über die Frage, wann eine Intervention in das Leben eines anderen zulässig oder sogar notwendig ist – und wann sie im Gegenteil als übergriffig empfunden wird.
Zum Plot: Annika (Tanja Boxberger) organisiert eine Intervention für ihre Freundin Lily (Ulrike Hartnagel), die Annikas Ansicht nach ein Alkoholproblem hat. Zusammen mit Lilys Tante Marlene (Maren Bulmahn) und ihrer alten Schulfreundin Frans (Angelika Reimers) lädt sie Lily unter dem Vorwand eines gemütlichen Abends zu sich nach Hause ein.
Schon bevor Lily eintrifft, entbrennt ein Zickenkrieg zwischen der „amtlich anerkannten Gemütskranken“ Frans, dem „verblühenden Blumenkind“ Marlene und der von einer ausgebremsten beruflichen Karriere frustrierten Annika. Statt eines entspannten Treffens erwartet Lily zusätzlich zur Konfrontation mit ihren eigenen vermeintlichen Problemen bald auch die Auseinandersetzung mit denen der anderen.
Das inszenierte Tribunal der Hobby-Therapeutinnen nimmt Fahrt auf als es darum geht, die Selbstbilder und Lebenslügen der anderen zu entlarven. Die Spekulationen und Analysen schießen durcheinander. Der einen wird eine manipulative Mutter unterstellt, die andere mit der gnadenlosen Diagnose konfrontiert: „Du bist einsam, alt und pleite“.
Viel Text war für die Schauspielerinnen zu lernen, denn die gesamte Handlung basiert letztlich auf vielen Monologen und Dialogen. Sehr zum Vergnügen der Zuschauer greift Angelika Reimers als Frans deren Charakterisierung als Lyrikerin auf und karikiert das immer wieder mal durch pseudo-poetisches Deklamieren mit theatralischen Gesten und übertriebenen Metaphern.
Zäsuren setzt auch Jörg Walther als allegorische Figur: Er ist die personifizierte Droge und liefert in stets veränderter Gestalt Zwischenspiele, welche die Jahrtausende alte Geschichte des Drogenkonsums aufgreifen – vom Heroin und Kokain über den Alkohol bis zum Kaffee: Viele Rauschmittel wurden zunächst als Medikament eingesetzt, etwa vom jungen Sigmund Freud. Auch die im 19. Jahrhundert populäre Opiumtinktur, gehörte als Laudanum oder „Fläschchen“ für viele zum Alltag – wie das ausgesehen haben könnte, zeigt „die Droge“ Jörg Walther in einer köstlichen Doppelrolle als zahnlose Mutter und deren liebreizende Tochter.
Die Droge lindert und macht krank, sie ist sowohl gut wie auch schlecht, hart und weich zugleich, und ob sie die Kreativität anregt, das Bewusstsein erweitert oder einen Menschen in der Gosse enden lässt, hängt von vielen Faktoren ab. Ein Aspekt, der durch den erfrischenden Gastauftritt von Jürgen Kotrade (sonst eher im Pipapo-Ensemble zu finden) in Gestalt einer riesigen Ginfasche illustriert wurde: Wird der Gin-Genuss heute eher elitär zelebriert, war er im 18. Jahrhundert Auslöser der englischen Gin-Krise, die zu Verelendung und hohen Todesraten in der Unterschicht führte.
Rebekka Kricheldorf ist eine der prominentesten Autoren des zeitgenössischen deutschsprachigen Theaters. Raphael Kassner, Kulturwissenschaftler, Regisseur und Theaterpädagoge aus Darmstadt hat die Inszenierung mit dem Vornerum-Ensemble erarbeitet – sehr zur Zufriedenheit der Premierengäste, die freudig applaudierten.
Vorstellungen gibt es am 27. und 28. September sowie am 3., 4. und 5. Oktober, ebenfalls jeweils um 19.30 Uhr. Im Vorverkauf sind Karten bei der Tourist Info Bensheim (Tel. 06251/869610-1) und online unter vorverkauf.pipapo-kellertheater.de erhältlich.
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