Bensheim. Es ist eigentlich fast gleichgültig, was der österreichische Dramaturg und Regisseur Hermann Beil liest – es ist immer ein Genuss, ihm zuzuhören. Doch am Dienstag war er mit einem besonders wertvollen Stoff im Parktheater zu Gast: „Ein alter Mann wird älter – Ein merkwürdiges Tagebuch“ von Günther Rühle. Es ist das Lebens- und Abschiedsbuch eines der einflussreichsten deutschsprachigen Theaterkritiker, erschienen wenige Wochen vor dessen Tod im Alter von 97 Jahren am 10. Dezember 2021.
Fast auf den Tag genau ein Jahr nach diesem Tag hatte der Rotary-Club Bensheim-Heppenheim nun zur Lesung eingeladen, um auf Betreiben des langjährigen Bensheimer Kulturamtsleiters Berthold Mäurer einen Bensheimer Ehrenbürger zu würdigen, der viel für das kulturelle Leben der Stadt getan hat.
Präsident der Akademie
Der derzeitige Präsident der Bergsträßer Rotarier Jürgen Mescher gab zur Einführung einen kurzen Rückblick auf das Engagement, mit dem Rühle der Stadt Bensheim einen Platz in der deutschen Kulturlandschaft verschaffte: Als Präsident der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste wirkte er maßgeblich über viele Jahre an der Gestaltung und Umsetzung der Verleihung des Eysoldt-Rings mit. Ihm sei es auch mit zu verdanken, dass in Bensheim die Woche junger Schauspieler eingerichtet wurde und seit 27 Jahren erfolgreich durchgeführt wird.
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Doch sei auch Hermann Beil nicht weniger wichtig für Bensheim, sagte Mescher, und habe vieles mit Rühle gemeinsam getan und dessen Arbeit fortgesetzt – als Nachfolger in der Präsidentschaft der Deutschen Akademie der Darstellenden Künste, aber auch – gemeinsam mit Stephan Dörschel – bei der Vollendung des dritten Bandes von Rühles monumentaler Darstellung der Geschichte des deutschen Theaters, an der der Autor bis fast an sein Lebensende gearbeitet hatte.
Sein aufgrund einer Makuladegeneration im letzten Jahr seines Lebens schnell schwindendes Augenlicht hatte Rühle den Abschluss der Arbeit unmöglich gemacht. Des Lesens nicht mehr mächtig, schrieb er „noch immer im Zweifingersystem“ nun in die Tasten, was er aus seinem Inneren schöpfen konnte – und hoffte, dass das Ergebnis trotz Tippfehlern lesbar sein möge.
Mit 96 Jahren begann Rühle also mit dem Tagebuchschreiben: „In diesen Tagebucheinträgen gebe ich zum ersten Mal was von mir preis. Ich formuliere zum ersten Mal was von innen drin, das ich selbst nicht kannte, vielleicht auch nicht wissen wollte. Ich habe mich immer nur erforscht in und durch Arbeit. Sie ist mir entzogen. Jetzt horche ich in mich, die Richtung ist umgekehrt“, so bekannte Rühle.
Erinnerungen und Zeitgeschichte
Hermann Beil begann mit den ersten Eintragungen, die im Oktober 2020 einsetzen und traf dann eine Auswahl in chronologischer Folge, die sowohl das stetige Kreisen der Gedanken spüren ließ, als auch die Schwerpunktthemen wie Altern, Tod, Theater oder Schreiben repräsentierten, daneben aber Kindheitserinnerungen, Zeitgeschichte und Anekdotischem Raum gab.
Auch noch nicht ganz so alten Menschen geben Rühles Schilderungen – nüchtern bilanzierend und ohne Selbstmitleid – eine sehr eindringliche Vorstellung davon, wie es sich anfühlt, wenn man nicht nur das Augenlicht verliert, sondern auch die Kraft weite Strecken zu gehen. Mit 96 gibt Rühle das Autofahren notgedrungen auf und wird „Taxist“, wie er es nennt. Ohne Auto beginnt ein neues Lebensalter, vor allem aber ohne Arbeit: „Ich bin ein anderer, ohne Zweck und Sinn“, schreibt Rühle. „Mir fehlt meine Arbeit jeden Tag mehr.“
Immer wieder formuliert er den Schmerz, den dritten Band von „Theater in Deutschland“ nicht vollenden zu können. Und er denkt – offenbar insbesondere in den ersten Wochen nach Erhalt der Diagnose der Augenärzte – an Suizid. Später erscheint ihm das Sterben im Traum als etwas Leichtes, Seliges; es ist ein Traum, den er festhalten möchte.
Das Theater sieht er als Schicksalspanorama (um dessen Zukunft ihm bang ist). Als Kind beeindruckten ihn zunächst ein reisendes Kasperltheater, dann die Römerberg-Festspiele in Frankfurt, wo er als Achtjähriger nichts verstand, aber „guckte und guckte“. Erstmals wirklich berührt war er von Borcherts „Draußen vor der Tür“, inmitten der Trümmer von Frankfurt, und „Endstation Sehnsucht“ wurde für ihn zur Nachricht aus dem fernen Amerika.
Nachruf auf Thomas Mann
Seinen Weg vom Journalisten bei der Frankfurter Rundschau 1953 bis zum Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen ab 1960 beschreibt er ungeschminkt. Als er einen Nachruf auf Thomas Mann verfassen muss, hat er noch kaum was von ihm gelesen, die langen Sätze waren nicht sein Fall. Doch liest er sich schnell ein und erhält ein Sonderlob für seine Arbeit.
Als Vabanque-Spiel bezeichnet er dann den „Frontenwechsel“, als er, der einflussreiche Kritiker, 1985 die Intendanz des Frankfurter Schauspiels übernahm, im Alter von 61 Jahren – „damals war ich noch jung“. Skandale wie der um Rainer Werner Fassbinders als antisemitisch verstandenes Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ oder Inszenierungen von Einar Schleef begleiteten Rühles Wirken am Frankfurter Theater, bis er nach der Spielzeit 1989/90 zurücktrat.
Im Tagebuch beschäftigt Rühle, Jahrgang 1924, auch die Überlegung zu eigener Schuld in der Zeit des Nationalsozialismus, auch wenn er von schlimmen Taten verschont wurde: „Ist man sich seiner selbst sicher?“. Dazwischen immer wieder Anekdotisches, über den Kauf eines Smokings, um sich zu Gast beim Bundespräsidenten Walter Scheel mit dem Tischnachbarn über Fußball zu unterhalten. Und über Opas Trillerpfeife, „ein Nachrichten- und Befehlsgerät“, – ist noch genug Puste da für einen Erinnerungspfiff?
Die Person Günther Rühle wurde bei der Lesung in Bensheim sehr plastisch. Fast konnte man ihn noch auf seinem Sitz im Zuschauerraum sehen, wo er über so lange Zeit ein zuverlässiger Gast gewesen war, bei der Verleihung des Eysoldt-Rings ebenso wie bei den vielen Wochen junger Schauspieler, für die er die stets sehenswerte Auswahl getroffen hatte.
Am Dienstag war das Parktheater bei freiem Eintritt mit nur rund 50 Zuhörern gefüllt, darunter Bürgermeisterin Christine Klein. Die Rotarier baten um möglichst großzügige Spenden für die Bensheimer Tafel.
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