Auerbach. Es sind nicht einfach nur ein paar neue Häuser, die zwischen Schillerstraße und Bahngleisen gebaut werden. Rund 1000 Menschen sollen hier später leben – familienfreundlich, ökologisch wertvoll und sozial verträglich. Neben 300 bis 400 Wohnungen sollen auch Büros, Dienstleister, ein Kindergarten und vieles mehr Platz finden.
Im September 2020 hatte die Stadtverordnetenversammlung der Umsiedlung des seit 100 Jahren an dieser Stelle ansässigen Auerbacher Familienunternehmens Sanner zugestimmt – obwohl eigentlich keine neuen Gewerbeflächen mehr entwickelt werden sollten. Inzwischen wurden große Anteile der Firma an den britischen Finanzinvestor GHO verkauft. Der Hauptsitz sowie Produktions- und Entwicklungsstandort blieben in Bensheim, im Gewerbegebiet Stubenwald. Eine zweite Produktionsstätte befindet sich in der chinesischen Stadt Kunshan. Das Gelände in Auerbach verblieb vollständig im Besitz der Familie Sanner.
Die Umwandlung des bisherigen Firmengeländes in ein Wohngebiet war Teil einer verbindlichen Abmachung zwischen dem Unternehmen und der Stadt Bensheim im Zusammenhang mit der Umsiedlung. Darauf wies Erste Stadträtin Nicole Rauber-Jung beim Bürgerdialog am Samstagnachmittag hin. Eingeladen hatte die für die Entwicklung gegründete Immotolia GmbH & Co. KG in die leerstehende Kantine des ehemaligen Firmengeländes.
Rund 80 Bürgerinnen und Bürger folgten der Einladung. Nach der Begrüßung durch Hendrik Friedrich, Geschäftsführer der Immotolia, und Bürgermeisterin Christine Klein, erhielten sie bei einem Rundgang über das Gelände einen Eindruck von den Dimensionen, Chancen und Herausforderungen des Areals.
Das Unternehmen Sanner war vor genau 100 Jahren unmittelbar am Bahnhof angesiedelt worden – damals noch außerhalb Auerbachs. Heute gilt die verkehrsgünstige Lage als einer der großen Pluspunkte des Projekts. Laut Architekt Sanjin Maracic vom Büro Plan@m, der das Projekt derzeit als Berater begleitet, soll der bisher abgeriegelte Zugang zum Bahnhof künftig als einladendes Eingangstor gestaltet werden.
Bevor konkrete Gebäude geplant werden, muss allerdings ein Bebauungsplan erstellt und genehmigt werden – ein Prozess, der etwa zwei Jahre in Anspruch nehmen dürfte. Die anschließende Bauzeit wird auf rund acht Jahre geschätzt.
Partizipation als Prinzip
Hendrik Friedrich – Mitglied der Familie Sanner in fünfter Generation – betonte, dass die Bürgerinnen und Bürger von Anfang an in die Entwicklung eingebunden werden sollen. Deren Bedürfnisse und Wünsche sollen die Planungen maßgeblich prägen. Friedrich unterstrich seine persönliche Verbundenheit mit Auerbach: Er und seine Familie leben noch heute dort, und selbst der erste Firmensitz in der Bachgasse, wo Sanner 1894 gegründet wurde, befindet sich noch im Familienbesitz. Die Immotolia GmbH sei kein klassischer Investor, der lediglich auf Rendite aus sei und sich dann zurückziehe – vielmehr sehe man sich in der Verantwortung für die Region. Auch Materialien und Architekturformen sollen sich harmonisch in die gewachsene Umgebung einfügen.
Dass es Architekt Maracic ebenso ein Herzensanliegen ist, zeigte sein Verweis auf Georg Metzendorf, der mit der Essener Margarethenhöhe eine Werkssiedlung mit Modellcharakter entwarf. Auch in Auerbach wolle man ein Vorzeigeprojekt realisieren – gemeinsam mit der Öffentlichkeit.
Die Wunschliste ist lang
Schon vor dem Bürgerdialog gab es zwei gut besuchte Werkstattgespräche mit Politikern und Anwohnern im März und April. Deren Ergebnisse wurden nun visualisiert präsentiert. Die Wunschliste ist lang: Grün- und Begegnungsflächen, ortstypische Bauformen mit Satteldächern, Erkern und Vorsprüngen, Spielplätze für alle Altersgruppen sowie viele kleine Wohnungen stehen weit oben.
Als große Herausforderung gelten die Entwicklung eines zukunftsfähigen Mobilitätskonzepts, der Umgang mit Starkregenereignissen sowie die Transformation der Energieversorgung. Weitere Themen: Recycling von Baumaterial, Renaturierung der derzeit zu rund 80 Prozent versiegelten Fläche sowie die Öffnung des Wasserlaufs auf dem Gelände.
Insgesamt soll ein Quartier entstehen, das Wohnen für alle Lebensphasen – von 0 bis 99 Jahren – ermöglicht und das bei veränderten Lebensumständen nicht zum Umzug zwingt. Viele Bürgerinnen und Bürger sahen darin ein enormes Potenzial. Einige kamen bereits mit konkreten Ideen – etwa eine Gruppe, die ein gemeinschaftliches Wohnprojekt realisieren möchte.
Vielfalt der Anregungen – und Zielkonflikte
Die geäußerten Wünsche reichten von einem oberirdischen Bachlauf über Kräuterbeete, große Bäume, Fitnessgeräte und Urban Gardening bis hin zu einem kleinen Pool mit Gegenstromanlage, einer Kochhalle und einer Boule-Bahn.
Zum Thema Verkehr wurde häufig eine autofreie Zone genannt – bei gleichzeitiger Forderung nach Liefer- und Entlademöglichkeiten. Verkehrswege sollten möglichst wenig versiegelt werden. E-Ladestationen, Car-Sharing, rollatorgeeignete Bahnunterführungen, Blindenführungen sowie Lastenrad- und Rollstuhl-Sharing wurden ebenso vorgeschlagen. Manche äußerten auch die Sorge vor einer steigenden Verkehrsbelastung.
Beim Thema Bebauung zeigten sich Zielkonflikte: Verdichtetes Bauen einerseits, der Wunsch nach nicht zu hohen Gebäuden und viel Grünfläche andererseits. Wandbegrünungen, natürliche Materialien wie Rotsandstein, und der Erhalt historischer Fabrikteile wurden begrüßt. Die maximale Zahl der Wohneinheiten wurde mehrfach auf 250 begrenzt gewünscht.
Auch der Ruf nach sozialer Durchmischung war deutlich: Flexible Grundrisse, barrierefreies Wohnen, bezahlbare Mieten sowie Gemeinschaftsräume, Werkstätten, Raum für Kultur und Musik, öffentliche Treffpunkte und Senioren-WGs wurden vielfach gewünscht. Gleichzeitig gab es Stimmen, die bei zu vielen verschiedenen Nutzungsformen Interessenkonflikte befürchten. Eine weitere Sorge: steigende Immobilienpreise beim Weiterverkauf könnten Wohnen für viele unbezahlbar machen.
Nicht zuletzt sehen viele das neue Quartier als Chance, eine Ortsmitte zu schaffen – mit Café, Drogerie, Arztpraxen und einer Mittagsverpflegung für Jung und Alt.
Fachlicher Input und Ausblick
Professor Torsten Becker, Stadtplaner, Hochschullehrer und Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung, stellte in einem Vortrag „7 Visionen zum Quartier der Zukunft“ gelungene Beispiele vor – etwa die Umgestaltung ehemaliger Militärgelände in Mannheim und Darmstadt. Ein lebenswertes Quartier zeichne sich durch sinnliche und emotionale Reize, Vielfalt, gute Luftqualität, geringe Lärmbelastung und Wertschätzung von Ressourcen aus. Eine Beteiligungskultur, gegenseitige Hilfe im Alltag sowie ein professionelles Quartiersmanagement seien zentrale Erfolgsfaktoren.
In den kommenden Wochen werden die Ergebnisse des Bürgerdialogs ausgewertet und die Planung entsprechend weiterentwickelt. Die nächsten Schritte sollen transparent kommuniziert werden. Ob es dem Bauherrn gelingt, die ambitionierten Ziele zu verwirklichen und die Bürgerbeteiligung kontinuierlich weiterzuführen, bleibt mit Spannung – und Hoffnung – zu beobachten.
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