Bensheim. Einen Seniorennachmittag der besonderen Art erlebten die Seniorinnen und Senioren der Stadtkirchengemeinde Sankt Georg mit Marlies Draudt und ihrem virtuellen Vortrag: „Stadtrundgang im Sitzen.“ Seit 1986 führt sie ihre Gäste durch die historische Altstadt, kennt alle Gassen und Winkel und ist mit der beeindruckenden Stadtgeschichte ihrer Heimatstadt bestens vertraut.
Bensheim wurde bekanntlich im Jahre 765 erstmals im Lorscher Codex, einer Art Grundbuch, erwähnt, als ein gewisser Udo, Sohn des Lando, sein Hab und Gut zu seinem Seelenheil dem Kloster Lorsch schenkte. Damit ist Bensheim älter als viele heutige Großstädte und kann auf eine ereignisreiche Geschichte zurückblicken.
Draudt begann ihre Stadtführung am Marktplatz, dessen Neugestaltung seit vielen Jahren, besonders nach Abriss des Hauses am Markt vor rund fünf Jahren und dem Phänomen des „Schorschblicks“, Thema Nummer eins in der Stadtgesellschaft ist. Nach Präsentation der Architektenentwürfe des ausgelobten Ideenwettbewerbs in der Stadtkirche Sankt Georg und einem Workshop im Bürgerhaus ist die Neugestaltung des Marktplatzes in eine entscheidende Phase gerückt.
Marlies Draudt äußerte allerdings die Befürchtung, dass – wenn es beim bisherigen zeitlichen Verlauf bleibt – sie den neuen Marktplatz wohl nicht mehr erleben werde, zumal aus ihr unverständlichen Gründen die Kostenseite vollkommen ausgeblendet werde.
Es wurden verschiedene Aufnahmen vom Marktplatz gezeigt, die Rudolf Schmitt, langjähriges Mitglied im Museumsverein und exzellenter Kenner der Stadtgeschichte, zusammengestellt hatte. Vom Marktplatz ging es über das Kirchengelände von Sankt Georg in die Obergasse zur Liebfrauenschule und den Maria-Ward-Schwestern oder den Englischen Fräulein, wie die Bensheimer sie liebevoll nannten, zum Walderdorffer Hof (1395 erbaut und ältestes Haus Südhessens) und den Resten der Stadtmauer. Auch der verheerende Bombenangriff vom 26. März 1945, bei dem viele Menschen ihr Leben verloren und zahlreiche Gebäude, darunter die Stadtkirche Sankt Georg, das Rathaus und das Kloster der Kapuziner in Schutt und Asche sanken, wurde besprochen.
Ein Modell aus Streichhölzern
Auch viele Gebäude, die heute nicht mehr vorhanden sind, wurden gezeigt und beschrieben. Der Mespelbrunner Hof, ein wunderschöner Fachwerkbau in der oberen Hauptstraße, wurde in den Fünfzigerjahren Opfer einer Kaufhauserweiterung. Diether Blüm (1924-2001), langjähriger Leiter des Museums und Stadtarchivar, bastelte mit Streichhölzern ein Modell dieses Adelshofes als Weihnachtsgeschenk für seine Kinder, das in der früheren Einhornapotheke in der Bahnhofstraße ausgestellt und zu bewundern war. Das zwischen der Bäckerei Jost und der Drogerie Scheid gelegene Anwesen Imhof, auch ein Fachwerkbau, musste einem Neubau weichen, und in der unteren Fußgängerzone fielen einige Fachwerkhäuser der Spitzhacke zum Opfer.
Auch das sogenannte Scharfrichterhaus in der Nibelungenstraße und die Villa Lux in der Rodensteinstraße gibt es heute nicht mehr. Der Dalberger Hof, der Hohenecker Hof, der Rodensteiner Hof und der Wambolter Hof wurden ebenfalls gezeigt und ihre Geschichte ausführlich erläutert.
Der Wambolter Hof wäre in den Siebzigerjahren fast abgerissen worden. In der Stadtverordnetenversammlung wurde über den Abriss heftig diskutiert, denn der Adelshof war in einem sehr schlechten Zustand und abgewohnt. Der Bollerhof, kein Adelshof, nahm in dem begeisternden und in bestem Bensemerisch geplauderten Vortrag von Marlies Draudt eine besondere Stellung ein – ist sie doch dort geboren und mit dem nahe gelegenen Rinnentor, das leider größtenteils Ende des 19. Jahrhunderts abgerissen wurde, ihr Spielgelände gewesen.
Beim Krankenhauskomplex mit der Kirche Sankt Joseph, aus der während der Corona-Epidemie einige Fernsehgottesdienste mit Pfarrer Heinz Förg übertragen wurden, erzählte die Referentin auch die Anekdote vom Babettsche, die im dortigen Altersheim ihr Lebensabend verbrachte. Sie gab bei Wahlen immer der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) – 1956 vom Bundesverfassungsgericht verboten – ihre Stimme, denn sie dachte, dass die Kommunionspartei doch etwas gut Katholisches sein müsse, da diese Partei doch das für Katholiken so wichtige Wort Kommunion im Namen führe.
Vom Hospital ging es weiter zur Mittelbrücke mit den beiden Heiligenfiguren Johannes Nepomuk und Franz Xaver (die Originale befinden sich heute in der Stadtkirche Sankt Georg). Die Entstehungsgeschichte der Brücke und die Erklärung der Anagramme wurden interessiert aufgenommen. Durch die Erbacher Straße führt der Weg zur Stadtmühle mit dem Denkmal der Fraa vun Bensem.
Die Senioren von Sankt Georg waren begeistert von dieser „Stadtführung im Sitzen“ und bedankten sich bei Marlies Draudt mit viel Beifall und einem Weinpräsent. red
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