Bensheim. Wann ist ein Mann ein Mann? Herbert Grönemeyer stellte diese Frage schon 1984 – und beantwortete sie in einem Lied voller Widersprüche: Männer seien „furchtbar stark“, „so verletzlich“, „einsame Streiter“, die „viel Zärtlichkeit“ brauchen. Mit Ironie stellte Grönemeyer das traditionelle Männerbild infrage.
Vierzig Jahre später ist das Ideal des „echten Mannes“ keineswegs verschwunden. Stattdessen präsentiert es sich in neuem Gewand: Im Netz propagieren sogenannte Männlichkeits-Influencer überwunden geglaubte Geschlechterrollen und inszenieren eine Männlichkeit voller Härte, Muskeln und Erfolg. Damit erreichen sie Millionen und prägen besonders junge Männer.
Die Folgen solcher Rollenbilder werden unter dem Begriff der „toxischen Männlichkeit“ diskutiert. Über die Gefahren dieses Trends klärte Referentin Nil Esra Dağistan am Dienstagabend in einer Online-Veranstaltung des Frauenbüros Bensheim in Kooperation mit dem Wiesbadener Büro für Staatsbürgerliche Frauenarbeit auf.
Toxische Männlichkeit, so machte Dağistan zu Beginn deutlich, meint nicht, dass alle Männer von Grund auf schädlich sind. Stattdessen beschreibt der Begriff gesellschaftlich über Jahrhunderte verankerte Denk- und Verhaltensweisen, mit denen Männer anderen, aber auch sich selbst schaden.
„Toxische Männlichkeit ist stark geprägt von Vorgaben, wie ein Mann zu sein hat und wie er sich verhalten soll“, sagte Dağistan, Business & Culture Coachin sowie Migrationsspezialistin aus Wiesbaden. Männern werde schon früh beigebracht, ihren Körper und ihre Schmerzgrenzen zu ignorieren, nicht „zu verweichlichen“. Wer Gefühle zeigt, gilt nicht als männlich, sondern verhält sich „wie ein Mädchen“ – so zumindest das gesellschaftliche Bild.
Ein starker Mann brauche demnach keine Hilfe. Das hat geschlechtsspezifische gesundheitliche Auswirkungen: Männer besuchen statistisch seltener Vorsorgeuntersuchungen, nehmen psychische Probleme weniger ernst, neigen eher zu Suchtverhalten. „Ich erlebe es immer wieder in meinen Beratungen“, so Dağistan, „dass Männer nicht wissen, wohin sie sich wenden sollen. Dann landen sie bei Männlichkeits-Coaches im Internet, die ihnen sagen, man müsse nur ordentlich pumpen, dann habe man auch keine Depressionen mehr.“
In ihrem Vortrag veranschaulichte Dağistan, wie diese destruktiven Verhaltensweisen sich durch das gesellschaftliche Miteinander ziehen und bereits im Kleinen beginnen. Etwa dann, wenn Männer sich wie selbstverständlich in der Bahn breitmachen oder ihre Kolleginnen am Arbeitsplatz unterbrechen.
Dağistan definierte von Grund auf Begriffe wie „Patriarchat“ oder erklärte den Ausdruck „Catcalling“, der für Belästigungen auf der Straße in Form von Rufen, Pfeifen, sexuellen Andeutungen oder Anstarren steht. Besonders für Teilnehmende, die weniger in den sozialen Medien unterwegs sind, gab es viel Neues zu lernen: Es ging um „Sexting“, „Dickpics“ und „Mansplaining“, um die „Mannosphäre“, um rote Pillen und den frauenverachtenden Influencer Andrew Tate.
Toxische Männlichkeit, so Dağistan, reicht von Grenzüberschreitungen beim Flirten bis hin zu Aggressivität, Sexismus und Gewalt.
Nach Ende des Vortrags meldete sich als erstes einer von zwei männlichen Teilnehmern zu Wort. „Sie können sich vorstellen, dass ich einiges an kritischen Bemerkungen zu machen habe“, sagt der Mann, der in der Videokachel der Online-Veranstaltung vor einem großen Bücherregal saß. Klar gäbe es diese „Geschlechtsgenossen“, die sich danebenbenehmen und für die er sich auch schäme. Aber er kenne eben auch viele Jungs und Männer, die sich „bemühen“ und sich „adäquat verhalten“.
Fast vier Minuten lang dachte der Mann laut darüber nach, warum denn nur Männer in ihren „Schattenseiten“ erwähnt wurden. Auch bei Frauen gebe es schließlich schlechte Verhaltensweisen, die seien jetzt aber nicht zur Sprache gekommen. „Es erschüttert mich“, sagte er, „dass ich als Mann pauschal angegriffen werde“.
Nil Esra Dağistan verwies auf Titel und Inhalt ihres Vortrages und fügte hinzu: „Ich finde es absurd, dass ich das sagen muss: Ich mag Männer.“ Ihr gehe es darum, über ein gefährliches Bild von Männlichkeit aufzuklären, welches wieder verstärkt Anerkennung erhalte.
„Mein Anspruch ist es, allen zuzuhören“, verdeutlichte sie. Man könne nur vorankommen, indem man in einen „wertschätzenden Dialog“ miteinander tritt. Und doch sei es auch wichtig, sichere Räume zu schaffen. „Wir leben in patriarchalen Strukturen. Frauen und weiblich gelesene Person werden dafür sozialisiert, schweigsam zu sein und sich zurückzunehmen“.
So würde grenzüberschreitendes Verhalten von Männern häufig hingenommen werden, man sollte sich als Frau eben „nicht so anstellen“. Dabei machen sogar Fälle vor Ort immer wieder deutlich, wohin toxische Männlichkeit im Äußersten führen kann.
Nur wenige Stunden vor dem Vortrag am Dienstag wurde ein Mann für den Mord an seiner Ex-Frau zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Mit einem Messer stach er mehrmals auf die Bensheimerin ein, durchtrennte ihre Kehle. Der Täter habe nicht ertragen können, hieß es, dass seine Ex-Frau sich von ihm emanzipierte und ein selbstbestimmtes Leben führen wollte.
Femizide, also die gezielte Tötung von Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechtes, sind eng mit toxischer Männlichkeit verbunden: Männer, die sich in ihrer Macht bedroht sehen, töten Frauen, um diese wieder herzustellen.
Dass sich manche Männer dennoch über Begrifflichkeiten wie toxische Männlichkeit „echauffieren“, so Dağistan, sei für sie die Bestätigung, dass es mehr Aufklärung und mehr solcher Vorträge braucht.
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