Lebensmittelausgabe

Die Bensheimer Tafel muss ihr System ändern

Immer mehr Haushalte sind auf die Lebensmittelausgabe angewiesen: Die Bensheimer Tafel muss mit einer Systemumstellung auf die enorm gestiegenen Kundenzahlen reagieren. Auch zur Entlastung der ehrenamtlichen Mitarbeiter.

Von 
Dirk Rosenberger
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Mariette Rettig und ihr Team bei der Tafel organisieren zurzeit eine Systemumstellung. Der bürokratische Mehraufwand, unter anderem müssen 1300 neue Berechtigungskarten ausgegeben werden ist notwendig, weil die Zahl der Haushalte, die sich über die Lebensmittelausgabe versorgen, enorm angestiegen ist. © Thomas Zelinger

Bensheim. Die Bensheimer Tafel ist für viele Hoffnungsschimmer und Rettungsanker zugleich. „Ich habe Rentnerinnen und Rentner, denen bleiben im Monat nur 70 bis 90 Euro. Für solche Leute sind wir da“, erklärt Vorsitzende Mariette Rettig. Und nicht nur bei ihnen ist die Not groß: Alleinerziehende, Familien mit geringem Einkommen, Bewohnerinnen des Frauenhauses, Geflüchtete - sie alle stehen zwei Mal pro Woche vor dem Gebäude an der Rheinstraße Schlange.

Und die Schlange ist vor allem in den vergangenen beiden Jahren immer länger geworden. 1280 Haushalte mit insgesamt 4500 Personen werden aktuell versorgt. Vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine waren es im Frühjahr 2022 noch 1100 Personen. 120 Haushalt pro Ausgabe konnten sich mit Lebensmitteln eindecken. Mittlerweile sind es 350.

Einen Aufnahmestopp will Mariette Rettig allerdings nicht verhängen, das kommt für sie nicht infrage. „Ich schicke niemanden weg!“, betont die Vereinschefin. Allerdings stößt das Ehrenamt bei der Tafel schon länger an seine Grenzen. Die Anforderungen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind enorm. Dauerte früher eine Ausgabe zweieinhalb Stunden, sind es nun viereinhalb. Die Touren, um Waren abzuholen, sind länger. Eine Zehn-Stunden-Schicht ist eher die Regel denn die Ausnahme. „Alle ziehen mit, da meckert keiner“, ist die Vorsitzende stolz auf ihre Truppe. Dauerhaft im roten Bereich will man jedoch nicht unterwegs sein.

Das Team der Tafel in Bensheim verzeichnet rund 20 Neukunden pro Woche

In den vergangenen Monaten haben sich die Verantwortlichen intensiv damit befasst, wie der stetig steigenden Belastung begegnet werden kann, wie sich die Situation etwas entzerren lässt. Das Ergebnis der Überlegungen: eine Systemumstellung, die nun nach der jährlichen Neuregistrierung erstmals Ende Januar/Anfang Februar greift.

Künftig können nur noch Kunden mit einem sehr geringen Einkommen einmal wöchentlich das Angebot nutzen. Wer mehr Unterstützung erhält, sei es über Bürgergeld oder andere Hilfen, darf nur noch einmal im Monat zur Tafel kommen. Überprüft und eingeteilt werden die Gruppen momentan von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Tafel - anhand von Einkommensnachweisen. Ein hoher bürokratischer Aufwand, der aber bewältigt werden muss, um den geänderten Modus umsetzen zu können.

Neu ist die zusätzliche Arbeit zum Jahresbeginn nicht. Immer im Januar müssen sich die Kunden neu registrieren, damit überprüft werden kann, ob die Voraussetzungen für den Einkauf bei der Tafel noch gegeben sind. Dieses Mal „ist es halt noch aufwendiger. Wir halten die künftige Einteilung aber für ein bisschen gerechter“, so Rettig, die hofft, dass die Vorgehensweise bei den Kunden auf Verständnis stößt. Zumal nicht davon auszugehen ist, dass der Zulauf geringer wird. Nach wie vor verzeichnet das Team rund 20 Neukunden in der Woche.

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Internationale Kriege und Konflikte, hohe Inflation in Deutschland, Altersarmut und Familien, die den Cent gar nicht oft genug umdrehen können: Die Tafeln als stabiler Knoten im sozialen Netz werden auch künftig gebraucht - was bedauerlich genug ist in einer reichen Industrienation wie Deutschland.

Mariette Rettig, seit 2011 in ehrenamtlich leitender Funktion, weiß um die Nöte und Sorgen der Menschen, die zur Ausgabe kommen. „Das Geld reicht vorne und hinten nicht“, erinnert sie sich an eine alleinerziehende Mutter, die vor den Feiertagen weinend vor ihr stand. Ihren Kindern konnte sie keine neuen Geschenke unter den Weihnachtsbaum legen, sondern nur ein gebrauchtes. „Das tut einer Mutter weh, wenn sie ihren Kindern nicht das schenken kann, was sie eigentlich gerne möchte.“

Die Vorsitzende verdeutlicht allerdings, dass es nicht Aufgabe der Tafeln sein kann, die sozialen Missstände der Politik aufzufangen. Darüber hinaus sei man kein „Vollversorger“, wie es manchmal erwartet werde. Man wolle und könne nur ergänzende Hilfe in wirtschaftlicher Notlage leisten. „Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“

Regelmäßige Benefiz-Aktionen gehören zum festen Bestandteil der Vereinsarbeit

Um diese überhaupt angehen zu können, braucht der Verein selbst finanzielle Unterstützung und ist auf die Spendenbereitschaft von Firmen und Privatpersonen angewiesen. Allein im vergangenen Jahr musste ein drittes, größeres Kühlfahrzeug angeschafft werden. Der Anbau des Lagers konnte abgeschlossen, das Kühlhaus erweitert, die Photovoltaikanlage vergrößert werden. Die Kosten für diese Vorhaben beliefen sich auf rund 360 000 Euro.

Regelmäßige Benefiz-Aktionen gehören daher zum festen Bestandteil der Vereinsarbeit. So wird es am Samstag, 3. März, einen Flohmarkt bei der Tafel in der Rheinstraße 4 a geben. Von 10 bis 16 Uhr kann gestöbert und gekauft werden. Die musikalische Gestaltung übernehmen die Original Blütenweg-Jazzer, die von 12 bis 14 Uhr spielen.

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Zur Stärkung gibt es Kaffee, Kuchen und Getränke. Der Eintritt ist frei. „Unsere Mitarbeiter räumen Keller und Dachboden auf und verkaufen alles zugunsten der Tafel“, betont Mariette Rettig, die sich wie immer für den Einsatz im Dienst der guten Sache bedankt - und dabei wie sooft ihre eigene tragende Rolle für das „ehrenamtliche Mittelstandsunternehmen“ unerwähnt lässt.

Als Gesicht und Taktgeberin der Bensheimer Tafel geht die Vorsitzende seit Jahren, unterstützt von vielen engagierten Mitstreitern, voran und hat die Initiative durch turbulente Zeiten mit Vereinsgründung, Neubau und Corona-Pandemie geführt.

Die Vorsitzende Mariette Rettig warnt vor Betrügern

Mariette Rettig bringt daher nichts so leicht aus der Ruhe. Worüber sie sich aber immer wieder ärgert beziehungsweise ärgern muss: Wenn versucht wird, mit dem Namen der Tafel Geld zu machen. Immer wieder bitten Betrüger, vornehmlich in der Fußgängerzone, um Spenden - aktuell erneut durch den Verkauf von Rosen. „Wir laufen nicht mit der Sammelbüchse von Haus zu Haus oder verkaufen Blumen in der Innenstadt“, stellt sie nicht zum ersten Mal klar.

Wer die wichtige Arbeit der Ehrenamtlichen unterstützen möchte, kann dies per Überweisung auf das Spendenkonto der Tafel bei der Sparkasse Bensheim tun: IBAN DE86 5095 0068 0002 0808 93.

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