Bensheim. Vom späten 17. Jahrhundert bis zum Jahre 1989 führte Heike Ittmann ihre rund 60 Zuhörer beim zweiten Konzert der 27. Bensheimer Orgelwochen in der Michaelskirche. Das bemerkenswert vielseitige Programm der gebürtigen Darmstädterin berücksichtigte neben den zentralen Orgelepochen Barock, Romantik und Moderne endlich wieder einmal die in Sachen Repertoire erheblich weniger ergiebige und daher weitgehend vernachlässigte Klassik. Ittmann (Jahrgang 1973) wirkt bereits seit 2003 als Kantorin an der Lampertheimer Domkirche, wo sie unter anderem die erfolgreiche Konzertreihe „Lampertheimer Orgelsommer“ initiiert hat.
Immer noch vergleichsweise kaum bekannt ist der früh verstorbene Husumer Barockmeister Nicolaus Bruhns (1665-1697), der ausweislich seiner wenigen erhaltenen Orgelkompositionen als einer der wichtigsten Bach-Vorläufer gelten darf. Ittmanns bezwingend feurig vorandrängende Wiedergabe des toccatenhaften großen e-Moll-Präludiums unterstrich Bruhns‘ Rang denkbar eindrucksvoll – ein kühner musikalischer Visionär, der den rhapsodischen „Stylus phantasticus“ seines Lehrers Dietrich Buxtehude kongenial weiterentwickelte. Als ähnlich überzeugende Bach-Interpretin erlebte man die Anfangfünfzigerin im glasklar entfalteten Werkpaar Präludium und Fuge e-Moll BWV 548, bei denen sich kontrapunktischer und konzertanter Esprit wie selbstverständlich vereinten.
Welch charmante Fundstücke sogar das sonst kaum beachtete Orgelrepertoire der Klassik parat hält, bewies Heike Ittmann mit dem wunderbar melodiösen und verspielten C-Dur-Präludium des einstigen Kasseler Hoforganisten Johann Christoph Kellner (1736-1803). Der gebürtige Thüringer hinterließ fast 100 überwiegend kurze Orgelwerke und dazu noch ein rundes Dutzend Klavierkonzerte – auch darin ein Vertreter der auf Eingängigkeit setzenden neuen Stilepoche und damit deutlich entfernt vom eher noch dem alten Bach verpflichteten Vater Johann Peter Kellner (1705-1772).
Orgelromantik der feinsten Sorte bot Felix Mendelssohns 1845 entstandene A-Dur-Sonate opus 65/3, deren energiegeladener Kopfsatz Ittmanns Vertrautheit mit dem Komponisten ebenso schön zeigte wie der gesangserfüllte „Andante tranquillo“-Ausklang. Auf das geplante Finale aus Olivier Messiaens Zyklus „L‘ Ascension“ musste die Organistin leider wegen einer partiellen Manual-Störung verzichten. Ihre durchaus französisch inspirierte, faszinierend stimmungsvolle wie abwechslungsreiche Spontan-Improvisation über „Der Mond ist aufgegangen“ ließ diesen Verlust jedoch nicht allzu schmerzlich erscheinen.
Allemal Appetit auf mehr machten zwei weitere Moderne-Kostproben am Programmende: „Epilogue sur un thème de Frescobaldi“ aus der achtteiligen Suite „Hommage à Frescobaldi“ (1951) des Pariser Orgelmeisters Jean Langlais (1907-1991) fesselte als brillante Pedalsolo-Fantasie, „Spectrum I“ (1989) des estnischen Erfolgskomponisten Erkki-Sven Tüür (Jahrgang 1959) begeisterte als atmosphärisch dichte Klangfarben-Studie. Wer die entsprechend stark beklatschte Musikerin gerade mit diesen originellen Abschlusswerken gehört hat, wird ihre nächsten Ausflüge ins 20. oder gar 21. Jahrhundert umso gespannter erwarten.
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