Bensheim. Der Mangel an Fachkräften geht auch an Hessen nicht vorüber. Prognosen zufolge werden bis zum Jahr 2028 rund 200 000 Experten fehlen. Davon rund 135 000 Personen mit Berufsausbildung und knapp 67 000 mit akademischem Abschluss. Mit den Praktikumswochen Hessen hat das Land jetzt erstmals Jugendlichen ab Klasse acht die Möglichkeit gegeben, innerhalb kurzer Zeit viele verschiedene Berufe kennenzulernen. Während der Sommerferien konnten Schüler jeden Tag in ein anderes regionales Unternehmen hineinschnuppern.
Das Besondere an dieser Art der Berufsorientierung ist, dass die Teilnehmer lediglich den Zeitraum und das Berufsfeld wählen können, nicht aber das konkrete Unternehmen. Ein Algorithmus weist nach dem Einwählen Ausbilder und Arbeitgeber zu, die nicht nur zu deren Interessen und Lieblingsfächern passen, sondern wenn möglich auch in der Nähe ihres Wohnorts liegen. Auf diese Weise gelangen junge Menschen auch in Betriebe, die sie sich sonst womöglich nicht ausgesucht hätten.
Interesse - im Vergleich zu den Vorjahren - gestiegen
Für Reinhard Pfeifer ein geeignetes Konzept, um mit wenig organisatorischem Aufwand die Fachkräfte von morgen kennenlernen zu können und gleichzeitig die Perspektiven der Jugendlichen zu erweitern. Der Ausbildungsleiter bei Dentsply Sirona ist aber nicht nur mit dem Prinzip zufrieden, sondern auch mit der Resonanz: von den knapp 400 angebotenen Plätzen wurden über 60 besetzt. Dürftige Quote, aber in absoluten Zahlen überaus erfreulich, so Pfeifer im Gespräch mit der Bergsträßer Landtagsabgeordneten und SPD-Generalsekretärin Josefine Koebe, die im Rahmen der Praktikumswochen die Ausbildungswerkstatt und den Logistikbereich besucht hat.
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„In den letzten beiden Jahren war das Interesse deutlich geringer“, so der erfahrene Ausbildungsleiter über das Angebot, das im Landkreis Bergstraße bereits zum dritten Mal mitorganisiert wurde. Der Kreis und die Wirtschaftsförderung Bergstraße sind Kooperationspartner des Landesprojekts, das sich von den üblichen Bewerberprozessen durch ein betont niederschwelliges Konzept abhebt. Über eine Onlineseite kann man sich kostenlos, schnell und einfach registrieren und seine bevorzugten Berufsfelder sowie individuelle Neigungen und Präferenzen anklicken.
Ausbildungsberufe kämen auf dem Gymnasium zu kurz
Das System vergleicht dann die Angaben (Berufsfelder, Tage, Wohnort) mit den verfügbaren Kapazitäten bei den Unternehmen. Über ein persönliches Profil kann man den aktuellen Stand der Vermittlung jederzeit verfolgen. Sobald ein Unternehmen zusagt, bekommt der Bewerber eine Benachrichtigung. Bei der Anmeldung Minderjähriger muss ein Erziehungsberechtigter zustimmen. Ein Lebenslauf wird nicht verlangt.
Durch den hessenweiten Ansatz sei auch die Kommunikation im Vorfeld besser gelaufen, sagt Reinhard Pfeifer, der von einer erheblichen Steigerung gegenüber den Vorjahren spricht. Dentsply Sirona habe sein Ausbildungsspektrum am Standort sehr gut darstellen können. Unter anderem wurden Plätze in dualen Studiengängen sowie in den Bereichen Mechatronik und Industriemechaniker besetzt. Im kaufmännischen Sektor wurde ein Tagespraktikum als Fachkraft für Lagerlogistik angeboten. Hannah Reuter aus Biblis gehörte zu jenen, die beim internationalen Dentalkonzern in Bensheim hinein geschnuppert haben. „In der Schule wird Berufsorientierung oftmals zu sehr auf ein Studium reduziert“, sagt die angehende Studentin. Ausbildungsberufe kämen gerade auf dem Gymnasium sehr kurz. Sie besuchte vier Unternehmen in knapp zwei Wochen. „Es hat sich gelohnt!“
Praktika bieten Jugendlichen mehr Transparenz der Berufswelt
Der direkte Kontakt zu den Menschen in einem Unternehmen sei nicht zu ersetzen, sagt auch Geschäftsführer Rainer Raschke. Er spricht von einem klassischen Arbeitnehmermarkt, der jungen Menschen momentan enorme Perspektiven ermöglicht, weil es nicht genug geeignete Bewerber für offene Stellen gibt. Der größte Arbeitgeber an der Bergstraße hat die Anzahl seiner Ausbildungsplätze daher weiter erhöht, obwohl der Branchenriese derzeit in einer angespannten Wirtschaftslage steckt. Auch an der Strahlemann-Talent-Company an der Geschwister-Scholl-Schule beteiligt man sich mit 5000 Euro. Dort entsteht ein Fachraum für Berufsorientierung unter Beteiligung regionaler Unternehmen, die vor Ort Workshops anbieten und über offene Stellen informieren.
Rainer Raschke würde sich wünschen, dass sich neben betrieblichen und privatwirtschaftlichen Projekten auch die Politik stärker im Bereich Berufsorientierung engagiert. „Am Übergang Schule und Beruf muss auch der Staat jungen Menschen helfen.“ Die landesweiten Praktikumswochen sieht er als guten Schritt in diese Richtung.
Josefine Koebe begrüßt die engere Zusammenarbeit der Ministerien in Wiesbaden, um Schule, Bildung und Ausbildung beziehungsweise Arbeit stärker miteinander zu verzahnen. Die Aktion Praktikumswochen zeige beispielhaft, wie gut das Wirtschaftsministerium und das Ministerium für Kultus, Bildung und Chancen an einem Strang ziehen können. Zusätzlich eingebunden sind die Netzwerke in den OloV-Regionen (Optimierung der lokalen Vermittlungsarbeit im Übergang Schule-Beruf) sowie die Partner des Bündnisses Ausbildung Hessen. „Praktika helfen, Mythen in der Berufswelt abzubauen und Jugendlichen mehr Transparenz zu bieten“, so Josefine Koebe.
Übergang von der Schule in den Beruf planvoll gestalten
Kristina Höly, wissenschaftliche Mitarbeiterin in Koebes Bensheimer Wahlkreisbüro, erkennt hier die positive Tendenz, dass sich die politischen Strukturen auf Landesebene sukzessive den veränderten Ausgangsbedingungen auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt anpassen. Die Berufswahl ist für die Mehrheit der jungen Menschen eine große Herausforderung. Daher empfiehlt es sich, den Übergang von der Schule in den Beruf planvoll zu gestalten. Praktika in verschiedenen Branchen und Berufen sind für viele junge Leute nach wie vor sehr hilfreich. Die Praktikumswoche gilt als weiterer Baustein auf dem Weg zur Ausbildung. Hessenweit fanden vom 24. Juni bis 23. August rund 6000 Praktikumstage statt. Über 4000 Jugendliche haben rund 1285 Unternehmen besucht.
Dass sich aus solchen Kurzaufenthalten auch langfristige Perspektiven ergeben können, erläutert Reinhard Pfeifer: Ein Praktikant von 2022 ist heute als Maschinenbaustudent im Unternehmen tätig. Wenn das Job-Matching nur einmal gelingt, haben beide Seiten viel gewonnen. Beim Termin am Mittwoch war bereits Pfeifers Nachfolger Tim Schicker mit dabei. Der Elektroingenieur ist derzeit technischer Ausbilder bei Dentsply Sirona und wird Anfang September die Ausbildungsleitung übernehmen.
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