Bensheim. Malerische Parks, gewaltige Meereswellen oder Porträts – die Motive sind allesamt gestochen scharf, ganz so, wie es Fotografien sind. Der Betrachter muss zweimal hinsehen, um zu erkennen, dass der Eindruck täuscht: Die Besucher bei der Ausstellungseröffnung von Jochen Hein im Museum der Stadt Bensheim können kaum glauben, dass seine Bilder gemalt sind.
Sie scheinen akribisch genau reproduziert zu sein, doch auch dieser Eindruck täuscht. Wer dicht an die Bilder herangeht, der sieht man, dass der Künstler keine Fotos im Maßstab 1:1 nachgemalt hat. Idyllische Uferlandschaften und glänzende Wasseroberflächen lösen sich in abstrakten Strukturen auf. Farbspritzer und Pinselspuren überziehen die Oberflächen der Leinwände: Alles andere als das Ergebnis präziser Feinmalerei.
Dieses Spiel mit der Illusion ist durchaus gewollt und gibt der Ausstellung ihren Namen: „Wirklichkeit und Wahrnehmung.“ Hein spielt mit der Oberfläche – mit der Oberflächlichkeit unserer Zeit. Er macht damit deutlich, wie stark unsere Wahrnehmung von der Erinnerung an Gesehenes geprägt ist. Es geht Hein um den Schein der Dinge, die „Spannung zwischen Erwartung und Wirklichkeit“, wie er es selbst nennt. Seine Bilder setzen sich erst im Auge des Betrachters zusammen und lösen sich direkt davor stehend auch wieder auf. Ein Hinweis darauf, ganz genau hinzuschauen auf die Welt, in der wir leben – ein Appell, sich nicht auf den ersten Eindruck zu verlassen.
Große Formate mit Sogwirkung
Jochen Hein arbeit und lebt in Hamburg. Dort studierte er auch an der Hochschule für angewandte Wissenschaften. Seine Arbeiten waren in den vergangenen Jahren in mehreren Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen. Das Museum Bensheim widmet dem Maler eine Einzelausstellung in den Räumen im Untergeschoss, bestückt mit vielen Werken, die in Privatbesitz sind. Die Vernissage-Besucher, die bei schönstem Sommerwetter für ein volles Haus sorgten, waren fasziniert von der Tiefe und Wirkung der Bilder:
Die großformatigen, teils mehrere Meter umfassenden Gemälde entfalten eine Sogwirkung in das Bild hinein und lassen eigene Bilder im Kopf entstehen. Die Bilder zeichnen sich zudem durch eine große Tiefe aus, die durch Weglassen und Reduktion auf das Wesentliche entsteht. Zwischen Grashalmen beispielsweise sind dunkle Stellen, in denen man phantasieren darf: Sich an die Wiese erinnern, auf der man als Kind gelegen hat. In den Szenerien befinden sich keine Menschen. Das Auge des Betrachters macht das Ur-Bild von Jochen Heins Gras zu „seinem“ Gras.
Auch das Bild vom Meer vor Grönland wurde vom Maler zwar einst so in der Realität gesehen, aber es entstand beim Malen neu und wurde so zu „seinem“ Meer: Viele Jahre Leben und Erfahrung spiegeln sich hier wieder. Rätselhaft und geheimnisvoll wirkt es, wenn Hein mit nur drei Acrylfarben – schwarz, grün und blau – auf grober Jute malt.
Für den ursprünglich ebenfalls aus Norddeutschland stammenden Stadtrat Joachim Uhde, der die Vernissage zusammen mit Kunsthistorikerin Anne-Simone Krüger eröffnete, strahlen die monumentalen Bilder zudem eine ungeheure Ruhe aus. Kunsthistorikerin Krüger, die eigens mit dem Künstler aus Hamburg angereist war, führte überaus anschaulich und lebendig in das Werk Heins ein. „Seine Malerei entspringt der Freude am Experiment. Der kontrollierte Zufall begleitet seine Arbeit. So wird das Malen für ihn zu einem Abenteuer und einem unwiederholbaren Vorgang. Jedes Bild ein Unikat und nicht wiederholbar.“ Aus den Strukturen der Farbe kristallisiert sich mal ein Horizont heraus, mal aus einer Pfütze auf dem Papier eine Küstenlandschaft. Dann verfolgt er diese Gedanken weiter.
Das Prinzip des kalkulierten Zufalls hat in der Kunst eine lange Tradition. Bereits Leonardo da Vinci berichtete von Botticelli, dass dieser einen Schwamm an die Wand warf und den so entstandenen Fleck als Inspirationsquelle nahm: Er sah darin einen ganzen Kosmos von menschlichen Köpfen, Tieren, Wolken oder Wäldern.
Die Faszination für Hein teilt Krüger mit einem Bensheimer Ehepaar. Das hatte Thomas Herborn, Leiter der Stadtkultur Bensheim, auf den Maler Jochen Hein und seine Bilder aufmerksam gemacht. Die Ausstellung „Wirklichkeit und Wahrnehmung“ eröffnet die neue Kultursaison der Stadt Bensheim. Die in Kooperation mit der Stuttgarter Galerie Thomas Fuchs präsentierte Ausstellung ist noch bis zum 29. September im Forum des Museums der Stadt Bensheim zu sehen.
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