Bensheim. Die Bauern protestieren, die Bahn streikt, die Ampel hängt im Kreisverkehr Richtung Sackgasse fest – und dann stirbt auch noch der Kaiser. Ja mei, da kann man 2024 eigentlich nur ein fröhliches Abwickeln Richtung 2025 wünschen, zumal sich die globalen Dauerkrisen der vergangenen Jahre an Silvester ebenfalls nicht in Rauch aufgelöst haben.
Von den lokalen ganz zu schweigen, in Bensheim lebt man seit einer gefühlten Ewigkeit in einer Zeitschleife: Marktplatz hier, Marktplatz da, Neumarkt-Center, mieser Haushalt, fehlender Wohnraum. Das berühmte grüßende Murmeltier hätte sich längst die Kugel gegeben. Die Liste ließe sich übrigens beliebig fortsetzen, aber durch Jammern und Wehklagen haben sich selten neue Perspektiven eröffnet.
Ob der Bensheimer Neujahrsempfang im Bürgerhaus am Sonntag als Stimmungsaufheller diente, muss jeder für sich beurteilen. Zumindest konnte man sich an gewohnten Strukturen festhalten. Hände schütteln, mit einem Gläschen Sekt anstoßen und ein wenig den Reden auf der Bühne lauschen. Bürgermeisterin Christine Klein sprach über globale Entwicklungen, deren lokale Auswirkungen und zitierte zunächst den ehemaligen Bundespräsidenten Gustav Heinemann: „Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.“
Herausforderung, geflüchtete Menschen in Bensheim vertretbar unterzubringen
Die heutigen Zeiten zwängen zur Veränderung, Anpassung, Flexibilität im Denken und Handeln. Die Taktung zwischen Großereignissen sei kurz, die Verlässlichkeit geringer geworden. „Dies ist eine Tatsache, aber kein Grund zu klagen“, so die Rathauschefin. Was folgte, war ein kurzer Abriss über internationale und nationale Ereignisse und Katastrophen (vom Krieg in der Ukraine über den Hamas-Terroranschlag auf Israel und aktuell die Überschwemmungen in Norddeutschland).
Einen Schwerpunkt legte die Rathauschefin auf die Herausforderung, geflüchtete Menschen vor Ort einigermaßen vertretbar unterbringen zu können. „Wir sind konfrontiert mit klimatischen, politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen und Krisen. Tausende und tausende Menschen machen sich weiterhin auf den Weg nach Europa, nach Deutschland, zu uns in den Kreis Bergstraße.“
Eine frische Note vom „Mädchen mit dem Kontrabass“
Schlange stehen zum Händeschütteln: Traditionell wird es nach der Corona-Pandemie beim Neujahrsempfang im Bürgerhaus wieder handgreiflich: Bürgermeisterin Christine Klein und Stadtverordnetenvorsteherin Christine Deppert hießen die geschätzt 500 Gäste am Eingang zum Saal willkommen.
Die Parlamentschefin eröffnete nach der Prozedur mit der üblichen leichten Verspätung und ihrer Rede die Veranstaltung.
Die musikalische Gestaltung des Vormittags lag in den Händen von Mimi Grimm, dem „Mädchen mit dem Kontrabass“, und ihrem Duett-Partner Steffen Zäuner an der Gitarre.
Eine singende Frau am weißen Kontrabass stand bei einem Bensheimer Neujahrsempfang vermutlich noch nicht auf der Bühne. Das Duo verlieh der Traditionsveranstaltung mit seinen Songs eine frische Note.
Die Bewirtung hatten wie in der Vergangenheit die Frauen der Biedermeiergruppe von Oald Bensem übernommen – wofür es von Bürgermeisterin Christine Klein zurecht Dank und ein Lob gab. dr
Die Unterbringung sei eine besondere Herausforderung für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Rathaus, denen sie besonders dankte. Diesen Menschen in Bensheim annehmbaren Wohnraum zu bieten, bringe die Verwaltung logistisch und persönlich an die Grenzen; bei aller guter Planung sei man zur Improvisation gezwungen. „Noch bewältigen wir diese Aufgabe“, so Klein.
Die kurzfristige Unterbringung geflüchteter Menschen in Zelten sei eine Möglichkeit. Aber eine sehr teure, „wie wir unter anderem bei Gesprächen mit dem Kreis erfahren haben“. Die Frage nach der Würde dürfe bei dieser Unterbringung gestellt werden. Auf dem Festplatz am Berliner Ring sollen deshalb nach der Demontage eines Zelts Container aufgestellt werden für bis zu 220 Bewohner. Container seien auch nicht die optimale Lösung, aber besser als ein Leben in Zelten ohne Privatsphäre und auf engstem Raum.
Alternativen auf dem freien Immobilien- und Wohnungsmarkt kosteten Geld. „Wir und andere Kommunen müssen Lösungen finden für Entscheidungen, die an vorgelagerter Stelle getroffen werden. Das kann funktionieren, aber nicht zu den aufgerufenen Konditionen. Städte und Kommunen benötigen mehr finanzielle Zuwendung, um als Mieter oder Vermittler von Wohnraum auf dem knapper werdenden Wohnungsmarkt mithalten zu können“, appellierte sie an die Verantwortlichen im Bund und rief dazu auf, für die Stadt als Mieter oder Vermittler zu werben. Wer unterstützen möchte, soll sich im Rathaus melden.
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Nach einem kurzen Ritt durch die lokalen Dauerbrenner Marktplatz (Hoffen auf gute Entwürfe beim Ideenwettbewerb) und Stadtbibliothek mit einer Zwei-Standorte-Lösung (Alte Gerberei und ein bisher nicht öffentlich gemachter außerhalb der Innenstadt) verwies Klein auf die Bensheimer Vorzüge (beispielhaft Ehrenamt, soziales Netz, intakte Vereinsstruktur, vitale Kulturlandschaft). Was in der aus ihrer Sicht zwangsläufigen Ansicht endete, dass Bensheim eine Stadt bleibt, in der es sich gut und schön leben lässt.
Einen weiteren Schwerpunkt legte die Rathauschefin auf ein Thema, das „jeder Demokratin und jedem Demokraten am Herzen liegen muss: Mehr als 400 Millionen wahlberechtigte Europäer, also auch wir hier im Saal, haben am 9. Juni die Möglichkeit, unsere Zukunft mitzubestimmen“. Das Recht zur Mitbestimmung bei der Europawahl beinhalte auch die moralische Pflicht, an die Wahlurnen zu gehen. So habe man die Chance, Europa und die Demokratie zu stärken. Und die geopolitischen Entscheidungen zeigten, dass man ein starkes Europa brauche.
2024 sei ein geschichtsträchtiges Jahr. „Das darf ich behaupten, das gilt auch für Europa. Wir fragen uns: Bleibt Europa so stark, bleibt Deutschland sicher, sozial, stark? Es liegt an uns – an unserer Wahl, unserem Zusammenhalt, unserer Toleranz und auch an unserer Entschlossenheit, wenn nötig auch Stärke und Grenzen aufzuzeigen“, betonte Christine Klein in ihrer Neujahrsrede. Bensheim trage mit seinen engen Verbindungen zu den Partnerstädten zu einem europäischen Zusammenhalt bei. Diese Freundschaften verbinden und überdauerten Krisen und Konflikte.
Ein Appell an den Zusammenhalt in Zeiten vielfältiger Krisen ist sicherlich nicht der schlechteste Einstieg ins Jahr. Wenngleich sich bereits in einigen Wochen zeigen wird, wie es um den stadtgesellschaftlichen Konsens bestellt ist, wenn die Entwürfe für den Marktplatz präsentiert werden, der neue Standort der Stadtbibliothek feststeht und die Suche nach Unterkünften für Geflüchtete intensiviert werden muss.
Wer es zuversichtlich mag, kann wie immer darauf setzen, dass 2024 ein Jahr wird, das Bensheim voranbringt. Und wenn nicht, gibt es mit hoher Wahrscheinlichkeit auch 2025 einen Neujahrsempfang, bei dem man mit einem Glas Sekt auf ein „gutes Neues“ anstoßen und das Beste hoffen darf.
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