Bensheim. Am Sonntag vergibt das Hemsbacher Programmkino „Brennessel“ anlässlich des 125. Geburtstags des deutschen Kinos erstmals einen Filmpreis. Erster Preisträger ist der international renommierte Regisseur Michael Verhoeven, der die Auszeichnung persönlich vor Ort entgegennehmen wird. Mit der „Bronzenen Brennessel“ will das traditionsreiche Lichtspielhaus künftig jährlich Akteure des Genres würdigen, die sich in besonderer Weise um die Filmkunst verdient machen. Auch die Stadt Weinheim ist nach Angaben der Veranstalter an der Initiative beteiligt.
Der Auerbacher Künstler Siegfried Speckhardt hat den Preis gefertigt. Am Montag hat der Maler und Grafiker die knapp 50 Zentimeter große und knapp ein Pfund schwere Plastik an den Kino-Betreiber Alfred Speiser übergeben. Die Skulptur stellt eine Brennnesselpflanze auf einem Sockel dar. Darauf hat der Künstler die Worte „Wir brennen für die Kunst“ eingraviert. Speiser zeigte sich begeistert von der Arbeit: Die Plastik sei künstlerisch famos umgesetzt und von schlichter Schönheit. „Sie vermittelt eine Portion Understatement, das passt zu uns“, so Speiser, der die Brennessel im Sommer 2018 übernommen hatte und auch das „Moderne Theater“ in Weinheim betreibt.
Mit Michael Verhoeven hat er gleich zur Premiere des Preises einen Dinosaurier des Genres flott gemacht. Der 82-Jährige („Die weiße Rose“, „Das schreckliche Mädchen“), der mit der Schauspielerin Senta Berger verheiratet ist, hatte seit den 60er Jahren als Regisseur Kinogeschichte geschrieben und bereits in den 50ern als jugendlicher Schauspieler an dem ein oder anderen Kinoschlager mitgewirkt. Mit 13 Jahren stand er erstmals auf der Bühne – als „Anton“ in Erich Kästners „Pünktchen und Anton“. Der Sohn einer Theaterfamilie studierte Medizin und arbeitete bis Ende 1972 auch als Arzt. Sein Regiedebüt hatte er 1967 mit „Paarungen“.
Dass er nach Hemsbach kommt, hat aber einen anderen Grund. Und der geht auf einen veritablen Skandal zurück. Sein experimenteller Anti-Vietnamkriegs-Film „o.k.“, für den er auch das Drehbuch geschrieben hat, sorgte als Wettbewerbsbeitrag bei der Berlinale 1970 für einen Eklat, der dazu führte, dass der Wettbewerb abgebrochen wurde und es keine Preisverleihung gab. Angeblich sei er „antiamerikanisch“. Man witterte eine Zensur seitens der Festivaljury. Neben Verhoeven und seinem Produzenten Rob Houwer protestierten auch andere Filmemacher und zogen ihre Wettbewerbsbeiträge zurück. Die Jury gab auf. Festivalleiter Alfred Bauer trat vorübergehend zurück, und die ganze Zukunft der Berlinale stand auf der Kippe. Bei der Verleihung des Bundesfilmpreises gewann das verstörende Schwarz-weiß-Epos, das in Bayern gedreht wurde, später die Auszeichnungen für die beste Nachwuchsdarstellerin (die erst 16-jährige Eva Mattes) und das beste Drehbuch.
„Es braucht Emotionen“
Fortan durfte der Film, der auf einer wahren Begebenheit beruht, auf Befehl des Rechtsinhabers Houwer nicht mehr gezeigt werden. „Es gab massive Meinungsverschiedenheiten mit Verhoeven“, so Speisers Mitarbeiter Frank Krause in Auerbach. Krause ist in Hemsbach für Sonderveranstaltungen zuständig. Dem Berliner ist es gelungen, den anderen Berliner an die Bergstraße zu holen. Am Samstag wird er in Weinheim zu Gast sein, wo er die ZDF-Produktion „Schlaraffenland“ vorstellen wird. Am Sonntag besucht Verhoeven dann Hemsbach. „Um das zu schaffen, braucht es Emotionen“, lächelt Alfred Speiser verschmitzt.
Auf Krauses Initiative gelang eine Einigung zwischen der Produktionsfirma und dem Regisseur. Einzige Bedingung war, dass die vom Münchner Filmmuseum restaurierte Fassung zunächst bei der Berlinale gezeigt wird. Als offizieller Abschlussfilm lief er dieses Jahr im Jubiläumsprogramm des Berlinale Forums – das Werk kehrte 50 Jahre später zurück nach Berlin. „Der Film hat keinerlei Staub angesetzt, ist hoch aktuell“, kommentiert Krause. Die Brennessel ist das erste Kino in Deutschland, in dem die Version im Rahmen der internen Reihe „Cinema Scandaleux“ zu sehen ist. Zwischen den jeweiligen Vorführungen am Samstag um 11 und 15 Uhr soll Verhoeven die Auszeichnung erhalten.
Früherer Kunstlehrer am AKG
Über Frank Krause kam auch der Kontakt nach Auerbach zustande: „Ich kenne Siegfried Speckhardt seit meiner Schulzeit am AKG.“ Den ehemaligen Kunstlehrer schätze er seither als hervorragenden Künstler. Bei Speckhardt rannte er offene Türen ein. „Ich musste lange nach Material suchen“, sagt dieser. Bei einem Schlüsseldienst wurde er fündig. Aus Kupferfragmenten hat Siegfried Speckhardt mit der Stichsäge die Skulptur erschaffen und geschliffen.
Für Alfred Speiser ist Michael Verhoeven eine prominente Ouvertüre, die dem Preis öffentliche Aufmerksamkeit verschaffen soll. In den nächsten drei Jahren, so lange ist die „Bronzene Brennessel“ mindestens finanziell gesichert, soll sich die Auszeichnung als Publikumspreis im Arthaus-Genre abseits des Mainstreams etablieren. Speiser denkt dabei nicht nur an Regisseure, sondern vor allen auch an Kinomacher, die nicht in der ersten Reihe stehen. Zum Beispiel Drehbuchautoren.
„Die Brennnessel ist eine widerstandsfähige Pflanze“, kommentiert der 69-Jährige augenzwinkernd die Probleme seit Beginn der Corona-Krise. Den Kopf in den Sand stecken will er nicht, das entspreche nicht seiner Natur. Über den Sommer hat er daher nach vorn geschaut und Pläne geschmiedet. Geboren wurden Talkformate, ein Brennessel-Club und eine Open-Air-Kino-Tour im nächsten Jahr, die auch an die nördlichere Bergstraße führen soll. Denn die Zeit des klassischen Lichtspieltheaters als reine Abspielstation, da ist er sich sicher, sei endgültig vorbei. „Ich sehe das Kino als einen Ort der Kommunikation, als kreatives Forum, an dem die Menschen zusammenkommen und sich austauschen.“
Brennen für die Kunst: Siegfried Speckhardts Gravurtext hätte nicht besser passen können.
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