Bensheim. Seit dem ersten evangelischen Gesangbuch mit gerade einmal acht Liedern im Jahr 1524 wurden in fünf Jahrhunderten bis heute 7000 bis 8000 verschiedene kirchliche Gesangbuch-Ausgaben mit insgesamt rund 120 000 bis 130 000 geistlichen Liedern in deutscher Sprache verlegt. In früheren Zeiten hatte tatsächliche jede Region, jede Großstadt – unter anderem Frankfurt mit seiner reichen Gesangskultur und einer doppelsprachigen Ausgabe in Deutsch und Latein – ein eigenes Büchlein, das sich von denen in anderen Kommunen unterschied.
Für Gläubige, die ihren Heimatort verließen, um sich wenige Kilometer entfernt niederzulassen, keine einfache Situation. Schließlich war es üblich, dass jeder evangelische Christ (zumindest die wohlhabenden unter ihnen) sein eigenes Gesangbuch besaß und nicht – wie es heute der Fall ist – ausreichend Gesangbücher in den Gotteshäusern vorhanden sind. Das einfache Volk lernte die Texte hingegen auswendig.
Sogar in Bensheim wurde 1976 ein eigenes Gotteslob von Franziskanern gedruckt, wie Professor Johannes Schilling in seinem unterhaltsamen und anschaulichen Vortrag „Von Luther zu Gospel – 500 Jahre Evangelische Gesangbücher“ den zahlreichen Zuhörern im voll besetzten Gemeindezentrum der Michaelsgemeinde mitteilte. Leider habe er bei seinen Recherchen keine weiteren Informationen zu der Bensheimer Ausgabe gefunden. Nach zuletzt 1993 soll vermutlich 2028 ein neues evangelisches Gesangbuch „mit einem ganz neuen Charakter“, mit 500 „guten neuen und guten alten Liedern“ und einer zusätzlichen Datenbank mit 1500 weiteren Liedern – die dann aus Urheberrechten digital gekauft werden müssen – erscheinen.
Ein exzellenter Kenner der Kirchengeschichte
Mit dem evangelischen Kirchenhistoriker Johannes Schilling hatten die beiden Pfarrer der Michaelsgemeinde, Philipp Geck und Markus J. Keller, einen exzellenten Kenner der Kirchengeschichte eingeladen. Seine Biografie ist durchaus beeindruckend. Schilling, der drei Doktortitel vorzuweisen hat (einer wurde ihm verliehen), ist Musikwissenschaftler und hat Germanistik, lateinische Philologie des Mittelalters und evangelische Theologie an den Universitäten Göttingen, Zürich, Wien und München studiert.
Nach der Promotion zum Doktor der Philosophie und der Theologie sowie seiner Habilitation für Kirchengeschichte, lehrte er einige Jahre an der Theologischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität in Kiel und war von 1999 bis 2002 dort Prorektor. Der Kirchenhistoriker ist Präsident der Luther-Gesellschaft, ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Hamburg und ordinierter Pfarrer der Kirche von Kurhessen-Waldeck.
Singen bedeutete für Martin Luther einen "frommen Weg zu Gott"
Von den Anfängen der ersten evangelischen Gesangbücher vor 500 Jahren – damals noch ohne Noten – bis heute gab Professor Schilling einen breiten Überblick über Herausgeber und Autoren, Verbreitung und deren nicht immer reibungslose Geschichte. Wichtig war auch zu erfahren, dass die „evangelische Liedkultur“ zunächst rein mündlich verbreitet wurde, da die allermeisten Menschen nicht lesen konnten.
Dass es Martin Luther war, der sich in einer Denkschrift im Jahr 1523/24 dafür stark gemacht hat, Psalmen in deutsche Liedtexte und obendrein in einer klaren, verständlichen Sprache zu übersetzen, verwundert hingegen nicht. Sein Appell blieb allerdings zunächst ungehört, so dass er selbst ein Liederbuch mit christlichen Liedern, Lobgesängen und Psalmen „dem reinen Wort Gottes gemäß“ und damit „das Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibt“ verfasste. Das Singen bedeutete für ihn ein „frommer Weg zu Gott“.
Nach dem ersten Anstoß durch Luther folgten viele weitere Gesangsbücher
In den Wittenberger Gemeindegottesdiensten wurde fortan das Glaubensbekenntnis gesungen, das der Nürnberger Drucker Jakob Gutknecht herausgegeben hat und welches „außerordentlich rar“ war. Eines der am meisten gesungenen Lieder war „Nun freut euch, lieben Christen g’mein“. Einige Jahre später hat Luther 1543 die Gläubigen davor gewarnt, die „richtigen Lieder zu singen und nicht solche von Schwärmern und Täuschern“. Viel und mit großer Freude gesungen wurde übrigens auch im Gemeindesaal der Michaelsgemeinde – und zwar mit Klavierbegleitung von Johannes Schilling.
Nach dem ersten Anstoß durch Luther folgten zahlreiche weitere Kirchengesangbücher, etwa vom Torgauer Kantor Johann Walter, später „Lobgesänge und göttliche Gesänge“ in der Reichsstadt Straßburg, in Genf, Bremen und Halle. Weiter vom Kantor der Berliner Nikolaikirche Johann Crüger, vom Theologen Joachim Neander, Georg Neumark (Kiel) und dem Dichter Paul Gerhard.
Evangelisches Einheitsgesangsbuch setzte sich um 1900 herum durch
Es gab das Darmstädter Gesangbuch, das vom Landesfürsten initiiert und inhaltlich überwacht wurde – und 1918 das letzte badische Gesangbuch, das „mit großherzoglicher Genehmigung“ gedruckt wurde. „Thron und Altar lagen seinerzeit eng beieinander“ folgerte der Referent.
Ein positiver Aspekt: Gedruckt wurden die Gesangbücher auf Anweisung des Landesherrn oftmals in Waisenhäusern, die ihren Bewohnern somit Arbeit, Ausbildung und Einkünfte ermöglichten.
Um 1900 herum setzte sich langsam aber stet das evangelische Einheitsgesangbuch durch – was nicht ohne Konflikte, Streitereien und „Grabenkämpfe“ ablief. So auch nach dem Zweiten Weltkrieg, als es um die Akzeptanz von religiösen Volksliedern ging. Ab 1950 schließlich wurde das „Evangelische Kirchengesangbuch“ eingeführt, das bis heute in Gebrauch ist.
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