Bensheim. Fehlheim. Was haben „Der Buchspazierer“, ein Bestseller von Carsten Henn über die Liebe zum Lesen, über Freundschaft und die Kraft von Büchern, Jules Verne fantastische Reise „20.000 Meilen unter dem Meer“, der zeitgenössische Roman „Wir sehen uns zu Hause“ von Christiane Wünsche über Spurensuche im eigenen Land und vom Ankommen bei sich selbst und der Rückblick eines Überlebenden der Shoah auf eine gesetzlose, wilde Nachkriegszeit in Frankfurt, „Der Teilacher“ von Michel Bergmann, gemeinsam? Auf den ersten Blick nicht das Geringste!
Und doch zeigt das „literarische Quartett“ auf unterschiedliche Weise, wie Bücher und spannend erzählte Geschichten – egal ob Kassenerfolg, Lieblingsschmöker oder Zufallsentdeckung – begeistern, neugierig machen und die Fantasie anregen können.
Beim fünften Vorleseabend, zu dem das Team des Fehlheimer Bücherhäuschens in die alte Schule eingeladen hatte, stellten die Vorleserinnen Marianne Grenda, Christiane Weise, Barbara Ottofrickenstein-Ripper und Marita Schladoth eben diese vier besonderen Bücher und deren Autorinnen und Autoren in Kurzbiografien vor. Elisabeth Weiner, eine der Gastgeberinnen, zeigte sich „total von den Socken“ vom Rekordbesuch lesebegeisterter Besucherinnen und Besucher. Der kleine Bürgerraum platzte aus allen Nähten, so dass trotz zusätzlich aufgestellter Stühle einige Zuhörerinnen und Zuhörer mit einem Stehplatz vorliebnehmen mussten. Was ohne Murren geschah.
Es wurde ein munterer, teils heiterer, dann wieder nachdenklicher Abend. Den Anfang machte Marianne Grenda mit dem Überraschungserfolg „Der Buchspazierer“. Der Roman, der mehr als 100 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste stand, in 36 Sprachen übersetzt wurde und 2024 mit Christoph Maria Herbst in der Hauptrolle verfilmt wurde, erzählt die warmherzige und kluge Geschichte vom menschenscheuen Buchhändler Carl Kollhoff, der einigen seiner Kunden deren bestellte Lieblingslektüre persönlich nach Hause bringt. Erst als er in der neun Jahre alte Sascha, die Bücher über alles liebt, eine enge Vertraute findet, öffnet sich der „Buchspazierer“ nach und nach. Selbst als Kollhoff seinen Job und damit den Sinn seines Lebens verliert, gelingt es dem Mädchen ihm neuen Mut zu machen.
Die Vorleserin stellte dem Publikum eingangs den Autor Carsten Henn vor, der zunächst als Weinjournalist und Restaurantkritiker tätig war, kulinarische Kriminalromane und Liebeskomödien verfasste und ein Bilderbuch für Kinder herausgab. Sein Erfolgsroman „Der Buchspazierer“ wurde allein in Deutschland über eine halbe Million Mal verkauft.
Einem entgegengesetzten Genre, der mysteriösen Abenteuergeschichte „20 000 Meilen unter dem Meer“, geschrieben 1870 von Jules Verne und in den folgenden Jahren mehrfach verfilmt, widmete sich im Anschluss Christiane Weise. Der dicke Wälzer mit dem mysteriösen Kapitän Nemo als Hauptfigur, „ein Meisterwerk aus der fantastischen Welt des Jules Verne“, beschreibt die wochenlange Suche und Verfolgungsjagd des französischen Wissenschaftlers Arronax nach einem vermeintlichen Seeungeheuer, einem „phänomenalen Wesen“, einer übernatürlichen Erscheinung, größer als ein Walfisch, von erstaunlicher Schnelligkeit und Kraft.
Hirngespinst oder unbekanntes Seesäugetier, Krake oder Moby Dick – hier scheiden sich die Geister. Die Presse in der ganzen Welt – von Berlin bis Brasilien - berichtete von dem „Ungeheuer“. Tatsächlich aber soll es sich um ein eisernes Unterseebot gehandelt haben. Verne, seiner Zeit weit voraus, stellt in dem Buch die Beziehung zwischen Mensch und Natur, die Ambivalenz von Technologie und die Suche nach Freiheit auf den Prüfstand.
Für die Zuhörer war es nicht ganz einfach, dem Fortgang der Handlung zu folgen, da viele Personen darin verwickelt waren, die man beim ersten Zuhören nicht zuordnen konnte. Die motivierte Vorleserin aber gab sich große Mühe und verriet zudem Wissenswertes über die Biografie des Schriftstellers, der 1828 als ältester von fünf Sprösslingen in Nantes geboren wurde, als Schiffsjunge nach Indien schipperte, in Paris Jura studierte und ursprünglich die Anwaltskanzlei des Vaters übernehmen sollte.
Stattdessen interessierte sich der Junior für Literatur, verfasste zusammen mit Alexandre Dumas dramatische Werke, wurde Sekretär an einem Pariser Theater, schrieb weiterhin Erzählungen und reiste um die Welt. Sein Interesse galt der Wissenschaft und dem technischen Fortschritt. Seinen ersten Science -Fiction-Reiseroman, „Fünf Wochen im Ballon“, veröffentlichte er im Jahr 1862.
Barbara Ottofrickenstein-Ripper, die Dritte im Bunde der Vorleserinnen, stellte in Fehlheim ein besonderes Schätzchen vor: eine Zufallsentdeckung in einer Telefonzelle, einem öffentlichen Bücherschrank in Auerbach. „Wir sehen uns zu Hause“ von Christiane Wünsche ist zweifellos ein Roman „in der heutigen Sprache, der Lust auf mehr macht“ und für breites Schmunzeln bei den Besuchern sorgte. Anne nimmt sich eine lange geplante Auszeit und macht sich mit Wohnmobil Willi und vergilbten Fotos ihres Ehemannes Peter auf den Weg vom Niederrhein nach Rügen und Thüringen, um mehr von seinem Leben zu erfahren („Drei Worte genügen: Nie wieder Rügen.“) Und tatsächlich wird die Fahrt zu einer Reise in die Vergangenheit von Peter und dessen Familie – und zu sich selbst. Mit ebenso heiteren Momenten und leidvollen Begegnungen und Erkenntnissen. Authentisch und lebensecht erzählt.
Ehe Marita Schladoth, extra für den Vorleseabend aus Stuttgart angereist, zum Buch von Michel Bergmann griff, erklärte sie zunächst, was sich hinter dem Titel „Der Teilacher“ verbirgt. Teilacher ist ein jiddisches Wort. Es handelt sich dabei um einen Handelsvertreter, der seine Waren an der Haustür verkauft und von einem Ort zum anderen reist. „Der Teilacher“ ist der erste Teil einer Roman-Trilogie von jüdischen Familiengeschichten „in einer grausamen Zeit, realistisch, chaotisch, aber eben auch mit viel Humor“, so Schladoth. Der erst kürzlich verstorbene Autor wurde als Kind jüdischer Flüchtlinge in einem Schweizer Internierungslager geboren. „Der Teilacher“ kam 2017 unter dem Titel „Es war einmal in Deutschland“ in die Kinos.
Die Vorleserin trug mehrere kurze Passagen aus dem Roman vor, in denen Bergmann mit viel Witz und ohne jede Bitterkeit schildert, mit welchen Tricks, kleinen Betrügereien und viel Chuzpe sich die Protagonisten, viele als einzige Überlebende ihrer Familie („ausgerechnet ins Land der Täter sind sie zurückgekommen“), über Wasser und am Leben halten. Wie sie in abgestellten Güterwaggons und Kellern hausen und bei Wind und Wetter unterwegs sind und Aussteuerpakete mit Wäsche als „einmalige Sonderaktionen“ anpreisen. Hauptfigur ist Alfred, der nach der Beerdigung seines Onkels David vom früheren Liebhaber seiner Mutter und einer wunderbaren Liebesgeschichte erfährt, die sein Leben grundlegend auf den Kopf stellt.
Am Ende der rund 90-minütigen Vorlesestunde gab es viel Beifall für das Quartett der Vorleserinnen und die Organisatoren vom Fehlheimer Bücherhäuschen. Um die tausend Bücher können hier jeweils von Montag bis Mittwoch und samstags „bei Tageslicht“ im alten Wiegehäuschen in der Kirchstraße 9 ausgeliehen werden. „Es wäre schön, wenn sich weitere Interessierte melden, um uns ihre Lieblingsbücher vorzustellen. Es ist nicht ganz leicht, Vorleserinnen und Vorleser zu finden“, wünschte sich Elisabeth Weiner eine möglichst baldige Fortsetzung der Vorlesestunde.
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